27. Dezember 2012

DER OBRIST UND DIE TÄNZERIN

John Malkovich (USA, Spanien, 2002)
John Malkovich kann man in der Regel kaum etwas vorwerfen, wenn aber jemand vorübergehend den Beruf vom Schauspieler zum Regisseur wechselt, blinken erstmal alle Alarmleuchten auf. Ein kreatives Desaster ist vorprogrammiert, denn warum sollte eine Regiarbeit von John Malkovich unbedingt gut sein? Auf der anderen Seite: warum aber auch nicht, wenn ein begabter Schauspieler dahinter steckt, der vielen Regie-Kollegen über die Schulter schauen durfte. Also lässt man sich darauf ein und muss es in dem Fall auch nicht bereuen.
Malkovich lehnt sich auch recht weit aus dem Fenster, was die Wahl des Stoffes angeht, denn mit der Geschichte um den südamerikanischen Terroristen Ezequiel Durán, die an das Leben des Führers einer peruanischen Terrororganisation angelehnt ist, wagt er sich gleich aus voller Nähe an ein knochenhartes Problemkino heran, das darüber hinaus auch noch zeitlose Züge trägt, wenn man sich die Mühe machen will, ihn auf aktuelle Tagesthemen zu projizieren.
Javier Bardem ist hier der Ermittler, der eine Menge aufzuräumen hat, früher mal ein erfolgreicher Anwalt, der sich beruflich umorientiert hat. Die Suche nach Ezequiel, der das Land durch Terroranschläge in Angst und Schrecken versetzt, ist ein weitgehend hoffnungsloser Kampf, eine abstrakte Irrfahrt und eine Suche nach einem gesichtslosen Phantom, der nicht zu fassen ist und doch allgegenwärtig ist. Was er lediglich hinterlässt sind mehrere Opfer und symbolische Andenken in Form von aufgeknöpften Hunde-Kadavern, an deren Hälsen ideologische Parolen hängen, über die sich das Volk und die Polizei den Kopf zerbrechen dürfen.  Ezequiel ist ein unsichtbarer Kämpfer, der verhasste Gegner während einer Theatervorführung als ahnungslose Zuschauer auf die Bühne lockt und von ausgewechselten Schauspielern kaltblütig ermordet lässt. Seine Vorgehensweise im ganzen Land gleicht einer makabren Inszenierung, deren Ziele und Forderungen nicht definiert werden, was die Polizei ratlos in der Ecke stehen lässt und schließlich das Kriegsrecht ausgerufen werden muss.Javier Bardem war deswegen vielleicht nie so nutzlos wie in diesem Film, und doch ist er die zentrale Heldenfigur und Hoffnungsträger, weil er irgendwann der ganzen Sache schließlich auf die Schliche kommen muss. Zu Hause hat er eine nervige, realitätsferne Ehefrau, deren Welt nur aus Beauty-Artikeln zu bestehen scheint. Er verfällt also Yolanda (Laura Morante), der Ballettlehrerin seiner kleinen Tochter, die nicht nur dafür sorgt, dass sein Privatleben und seine Gefühlswelt völlig entgleist, sondern die in der Gesamthandlung eine wichtige Rolle einnimmt.
Der Film hält sein stimmiges Gleichgewicht; er schlägt große Wellen vom Thriller, zum Drama und der sich durchschlängenden Liebesgeschichte, die so nicht sein darf, die sich zaghaft und in leisen Schritten entwickelt, um auf eine Kehrtwende hinauszulaufen.
Es ist eine permanente Suche nach jemandem, den man zur Verantwortung ziehen will, der aber erst mal ein großes Mysterium bleibt und sogar von Einheimischen als ein körperloses Etwas beschrieben wird, das sich wie ein böser Geist überall einnistet.
Der Feind lauert überall und hat viele Komplizen. Die Menschen im Film sind dem hilflos ausgeliefert und wir nicht viel weniger; die Bedrohung schwappt über und gelangt bis an unsere gemütlichen Fernsehsessel. Doch nicht nur das Thema macht hier den Film aus, sondern der Film selbst, dessen Geschichte mit großer Geschicklichkeit vorangetrieben wird.

20. Dezember 2012

ALEXIS SORBAS

Michael Cacoyannis (Griechenland, UK, USA, 1964)
Griechenlands Vorzeigefilm, Aushängeschild und wahrscheinlich größter Klassiker. Letztens den Roman aufgestöbert; was Cacoyannis daraus gemacht hat, ist vielleicht noch besser, zumindest filmgeschichtlich von großer Bedeutung.
Alan Bates (hier als der junge Schriftsteller Basil) erbt ein Kohlebergwerk auf Kreta und begegnet am Hafen dem Namensgeber dieser Geschichte, Alexis Sorbas, auch bekannt als Anthony Quinn; Figur und Darsteller gehen nahtlos ineinander über, denn Quinn spielt nicht nur Sorbas, sondern IST auch Sorbas. Selbst wenn man den Wälzer von Kazantzakis aufschlägt, hat man sofort die griechische Schauspielerlegende vor Augen; sich als Leser ein anderes Gesicht vorzustellen bleibt eine kreative Meisterleistung.
Von nun an sind Basil und Sorbas unzertrennlich. Als jungem, unerfahrenen Grünschnabel, bleibt Basil nichts anderes übrig als Sorbas' aufdringliche Art hinzunehmen und ihn als Arbeiter für das Bergwerk zu engagieren.
Basil ist der reservierte Jungspund im Spießerlook, der körperliche Arbeit kaum gewohnt ist, der allem misstrauisch und mit Vorsicht entgegentritt. Sorbas ist der grobgeschnitzte Riese, der sein Herz nach außen trägt, der das Leben kennt und am Schopfe packt, der immer geradeheraus ist und kein Blatt vor den Mund nimmt. Er ist der Wahnsinnige, Prophet und Philosoph in einem. Dank des Aufpralls dieser zweier Gegensätze wächst und gedeiht die Geschichte und beweist uns, wie sich die beiden Gegenpole doch stets zu ergänzen wissen.
Die Kohlemiene ist zunächst ein dunkles Loch voller Staub und Geheimnisse, sie auf Vordermann zu bringen und eine Seilbahnkonstruktion für den Baumtransport zu errichten, ist der Auslöser für die Handlung. Die beiden Männer lernen einander besser kennen und Sorbas erklärt Basil wie man lebt, gar wie man liebt, zumindest versucht er es, in dem er seinen Freund mit der Witwe Surmelina (Irene Papas) zusammenbringen will, dem mysteriös-schönen, beinahe wortlosen Charakter dieses Filmes. Sorbas selbst hat sich mit Madame Hortense zusammengetan, einer alternden, französischen Offizierskurtisane, die jedoch viel stürmischer den Inhalt ihres Herzens vor ihm ausschüttet, als es Sorbas lieb wäre.
Das besondere an dem Plot ist, dass die beiden Liebesgeschichten stets parallel aber zaghaft nebeneinander herlaufen, jedoch am Ende unerfüllt bleiben. Der Zuschauer kann nur zuversichtlich nach dem klassischen Näherkommen lechzen, doch der romantische Zauber bleibt uns verwehrt, weil der jungen Witwe mitten auf dem Dorfplatz die Kehle durchgeschnitten wird (als monströser Racheakt der Dörfler... was für eine Filmszene!) und die alte Französin krank in Sorbas Armen stirbt. Alles geht in die Brüche, selbst die Seilbahn an der Kohlemiene, eine unnützige Fehlkonstruktion, doch Sorbas und Basil überstehen am Ende all die Not und herben Schicksalsschläge und tanzen gemeinsam den berühmten Sirtaki-Tanz am Strand.
Und man fragt sich weiterhin, warum Griechenland mit seiner uralten Kulturtradition, trotz dieses großen Klassikers als Filmland ein weitgehend unbetretenes Territorium bleibt. Viel zu selten dringt von dort etwas zu uns hindurch, dabei kann sich ein Film wie Cacoyannis' Sorbas-Verfilmung praktisch unauffällig in den italienischen Neorealismo einreihen. Rossellini und de Sica sind da nicht weit entfernt; die Themen sind ähnlich rauh, die s/w-Bilder von ähnlicher archaischer Schönheit, und sowohl die großen Italiener als auch Cacoyannis, kleben ihren Figuren (bzw. den Menschen) direkt an den Fersen.

5. Dezember 2012

AUGEN OHNE GESICHT

Georges Franju (Frankreich, Italien, 1960)
Zeit für ein klassisches Schauermärchen mit Mary Shelley-Tendenz, gepaart mit Stilsicherheit und französischer Coolness; da ist man bei Georges Franju am besten aufgehoben. "Augen ohne Gesicht" nennt sich sein vielleicht bekanntestes Werk, das damals für reichlich Ekel und Panik unter den Zuschauern sorgte und das, obwohl er zuvor der Schere zum Opfer gefallen ist. Diese Schandtat der Zensur ist lange her und wir dürfen den Film inzwischen wieder in (fast) voller Länge genießen, zumindest die langwierige Operations-Szene in all ihrer B-Movie-Aufdringlichkeit über uns ergehen lassen.
Aber alles nacheinander. Zuerst muss man sich mit der Eigenwilligkeit des Chirurgen Dr. Génessier (Pierre Brasseur) vertraut machen, der in einer abgelegenen Villa seine nach einem Autounfall entstellte Tochter Christine (Edith Scob) von der Außenwelt versteckt, deren malträtiertes Gesicht (das wir als Zuschauer nie zu sehen bekommen) er mit Hauttransplantationen retten möchte. Da der Eingriff jedoch öfters misslingt (das verpflanzte Gewebe wird nach gewisser Zeit wieder abgestoßen), werden immer wieder junge Studentinnen von seiner Assistentin (Alida Vali) ins Haus gelockt, um als Hautspender auf dem Labortisch zu landen. Christine muss also viel über sich ergehen lassen. Sie lebt völlig isoliert hinter einer Maske, in einem Haus mit abgehängten Spiegeln, um von ihrem tragischen Aussehen verschont zu bleiben, oder zumindest halbwegs von dem schweren Schicksal abgelenkt zu werden.
Georges Franju kennt man einerseits als Regisseur von diesem Grusel-Hirngespinst, aber vor allem auch als Mitbegründer der französischen Cinémathèque. Man würde denken, dass auf diese Weise zwei vollkommen gegensätzliche Welten aufeinanderprallen, doch trotz der morbiden Grundthematik legt der Regisseur viel Wert auf eine filigran-verspielte Optik und stilvolle Charaktere. Natürlich im Mittelpunkt die markante Hauptfigur, die in ihrem detailverliebten, Geheimzimmer ihr Unglück permanent am Kissen ausweint.
In diesem Film kollidiert also vieles zusammen, was auf den ersten Blick kaum verwandt zu sein scheint: Das coole 60er-Jahre Godard-Paris auf Folterkammer-Ästhetik und viktorianische Villa, Kriminalgeschichte auf Old-School-Body-Horror.
Und dass der Film bis heute Spuren hinterlässt, merkt man spätestens, wenn man Leos Carax' "Holy Motors" sieht, in dem Edith Scob erneut mit einer Maske ihr Gesicht verdecken darf. Almodovar war ja mit "Die Haut, in der ich wohne" auch nicht weit entfernt; der Einfluss von Georges Franju reicht also bis in die heutige Zeit und das muss schon etwas heißen.

27. November 2012

DIE STRÄNDE VON AGNES

Agnès Varda (Frankreich, 2008)
2008 wurde die Großmutter der Nouvelle Vague 80 Jahre alt, deswegen bekommt sie am Ende des Filmes 80 Besen geschenkt, die sie in einer freien Minute auch wirklich nachzählt. Ansonsten beschenkt sie sich aber vor allem selbst, mit diesem doch wirklich wunderbaren Selbstportrait. Varda wählt nämlich einen unkonventionellen und viel kreativeren Weg, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Keine gewöhnliche Dokumentation mit aneinandergereihten Fakten, sondern lieber gleich ein filmischer Essay, mosaikartig zusammengesetzt aus Jetzt und Früher, aus Filmausschnitten, Fotografien, Orten die man wieder besucht, oder die einem wichtig sind. Familienfotos in den Dünen aufgestellt, große Spiegel am Strand verteilt, die die Wogen des Meeres plötzlich in den Sand verfrachten. Ein riesiger Wal aus Stoffen, im dessen Inneren die Regisseurin Jona-ähnlich thront und zu uns spricht. Und weil sich die große Dame des französischen Films so gern und so viel zurückerinnert, läuft sie auch meistens rückwärts, wenn sie alte Orte besucht, um Vergangenes zu betonen.
Die Filmemacher-Kollegen wie Godard & Co. dürfen auch nicht fehlen und Jacques Demy war ohnehin stets als Lebenspartner und künstlerisches Pendant an ihrer Seite, den sie sogar noch kurz vor seinem Tod 1990 aus voller Nähe gefilmt hat. Man sieht die beiden auch immer gemeinsam, mal jünger mal älter, aber stets im Schaffensprozess und der Film gibt einem dann noch deutlicher das Gefühl, Vardas Leben sei ein Gesamtkunstwerk. Nur schade, dass ihre Filme bei uns so selten gezeigt werden und sie ewig im Schatten ihrer männlichen Mitstreiter steht, von denen die meisten längst nicht mehr am Leben sind.

22. November 2012

EIN SELTSAMES PAAR

Gene Saks (USA, 1968)
Habe diesen Film vor Jahren eher zufällig entdeckt, vordergründig wegen Jack Lemmon, vermutlich in einer intensiven Billy Wilder-Phase, wo man auf Grund der beiden Hauptdarsteller (an Lemmons Seite der unvergessliche Walter Matthau) unweigerlich auch über Gene Saks' Film stolpert. Dass da noch ein Bühnenstück und eine ganze TV-Serie mit dranhängt, ist mir erst seit kurzem bewusst geworden.
Jack Lemmon steckt also hier im ausgelaugten Körper von Felix Ungar, einem neurotischen Hypochonder, Ordnungsfreak und permanenten Schwarzseher. Von seiner Frau verlassen unternimmt er mehrere Selbstmordversuche, bei denen er sich blöderweise immer selbst im Wege steht und nach kläglichem Scheitern schließlich bei seinem Freund Oscar Madison (Walter Matthau) einzieht.
An dieser Stelle beginnt der Film, das Drama, die Komödie, wie man es auch nennen mag, zumindest die Geschichte zweier gegensätzlicher Charaktere, eingeschlossen in einem geräumigen Appartement. Zusätzliche Figuren sind paar Pokerfreunde und zwei englische Mädchen beim eingefädelten Rendezvous.
"Ein seltsames Paar" ist vielleicht wirklich so etwas wie der Prototyp eines Buddy-Films wie er im Buche steht und gleichzeitig erzählt er von einer Freundschaft, die auf vollkommenen Gegensätzen basiert, denn Felix und Oscar tragen einen durchgehenden Ringkampf aus; es ist eine Schlacht zwischen Ordnung und Chaos, krankhafter Selbstkontrolle und der sich-gehen-lassen-Attitüde. Alles gekonnt inszeniert und dank des Figuren-Kontrastes voller urkomischer Momente. Und die beiden sind vielleicht mehr Ehepaar als so manch ein gut beobachtetes, heterogenes Filmpärchen und demnach nicht nur ein Spiegelbild für Männerfreundschaften, sondern für diverse Mann/Frau-Beziehungen. Schließlich gipfelt der Streit in vollkommener Ruhe, weil scheinbar alles ausgesprochen wurde und man sich nur noch schweigend aus dem Weg gehen will; der eine schmollt, der andere kocht innerlich. Und wir amüsieren uns prächtig.

21. November 2012

THE SILENT ENEMY

H.P. Carver (USA, 1930)
Carvers Film war damals eine Auftragsarbeit für das "Museum of Natural History". Man merkt es dem Film auch sofort an, dass viele leuchtende Ausrufezeichen über ihm schweben, so wie diverse erhobene Finger, die den amerikanischen Ureinwohner und seine bedauernswerte Geschichte ins Zentrum rücken wollen.
Doch wer glaubt, dass es in "The Silent Enemy" um die sonst so üblichen Cowboy/Indianer-Rafeureien geht, wo die weißen Neusiedler gegen die unkultivierten "Rothäute" Kämpfe ausfechten, liegt hier eindeutig falsch. Der weiße Mann kommt im Film gar nicht vor, schon hier liegt das Ungewöhnliche des Filmes, der sich ausschließlich auf die Lebensbedienungen der Ureinwohner konzentriert. Der stille Feind ist demnach nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern gerade das fehlende Fleisch als Nahrung, der Hunger, der die kanadischen Ojibwe-Indianer (alles Originale, die sich selbst verkörpern) in einem harten Winter auf die Probe stellt. Der Häuptling entscheidet sich, den ganzen Krempel zu packen und in den Norden zu ziehen, wo das Wild noch vorhanden sein soll. Dies stellt sich jedoch als großer Irrtum heraus. Die Wölfe fletschen die Zähne, die Raubtiere stehlen oder verpesten die letzten Vorräte, man versucht also auch schon die Götter um Hilfe zu rufen, doch der Hungerkampf tobt unentwegt, lässt sogar die Menschen aufeinander los.
Ein ganz harter Existenzkampf steht dem Zuschauer bevor, halb Spielfilm, halb Dokumentation, man kann es auch als das Leben selbst bezeichnen. Die Bilder sind phantastisch, die neue musikalische Untermalung von Siegfried Friedrich fast noch besser und alles zusammen sorgt für ein außergewöhnliches Sehvergnügen, denn wie oft bekommt man schon einen (Stumm)Film zu einer solchen Thematik zu sehen.

20. November 2012

LA LUNA

Bernardo Bertolucci (Italien, 1979)
Der Vergleich mag kläglich sein, aber wozu immer unberührtes Frischfleisch anpacken, wenn man aus der Tiefkühltruhe auch mal nach einem gut konservierten Leckerbissen greifen kann, der nach dem Auftauen an Intensität nichts verliert. "La Luna" war letztens so ein Film, eine erneute Sichtung war schon länger hinfällig, man hat bloß immer Angst, dass sich ein Film irgendwann abnutzt. Es ist das Problem der verloren gegangenen Magie, die einfach im Nichts verpulvert. Es soll ja schließlich weiterhin ein Film bleiben, der einem viel bedeutet, von dem man mit Vorsicht sogar behaupten kann, man würde ihn lieben. Der richtige Zeitpunkt war nun da, und es ist immer noch alles in bester Ordnung.
Bertolucci hat davor seinen Opus magnum "1900" abgedreht; alles was als nächstes käme, würde bloß in dessen Schatten stehen, vielleicht nicht mal das, sondern auf wackeligen Beinen in der Ecke schwanken.
Doch "La Luna" ist so viel anders, dass man ihn gar nicht zu vergleichen braucht. Zuallererst steht man aber wieder von der gewaltigen Aufgabe, den Inhalt zusammenfassen zu müssen, damit der Leser nicht ziellos herumirrt.Caterina (Jill Clayburgh) ist eine berühmte Opernsängerin aus New York, die nach dem Tod ihres Mannes mit ihrem 15-jährigen Sohn Joe (Matthew Barry) ein neues Leben in Rom beginnt. Der Konflikt schleicht sich rasch heran, denn Caterina blickt stets ihrem Erfolg entgegen, hat nur die Opernbühnen dieser Welt vor Augen und weniger ihren Sohn, der sich einsam fühlt und großteils alleine die Ewige Stadt erkundet. Er rutsch in einen verderblichen Rauschgiftkonsum ab, sein bester Freund ist gleichzeitig sein Drogenhändler und die Mutter merkt plötzlich, dass ihr Sohn ein Unbekannter für sie ist. Sie hört auf zu singen, möchte es auch nie mehr tun und lässt sich lieber auf ihren Sohn ein, doch leider auf falschem Wege, denn was sich anbahnt ist eine inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehung. In dem Augenblick, als sie merkt, ihrem Sohn aus der Drogensucht helfen zu müssen, übersättigt sie ihn mit ihrer Zuneigung, wie es bereits in den allerersten Filmminuten angedeutet wird, wo Joe als Baby mit Honig überfüttert wird und sich schließlich an der süßlich triefenden Masse verschluckt. Ergänzt wird das durch die Szene mit dem Wollknäulen, in das sich der kleine Bub verfängt und es wie eine Nabelschnur von seiner Mutter wegzieht während er weinend zu seiner Großmutter läuft. Symbole über Symbole.
Bertolucci sorgte damals mit der Inzest-Thematik für einen Skandal, bewies aber erneut, dass er eine Geschichte auch ohne faschistisch-politische Themen erzählen kann und das sogar mit wenigen Worten, weil auf die Bilder immer Verlass ist, die von subtil bis gigantisch alles abdecken.
Vielleicht folgt er hier sogar noch viel deutlicher seinem Herzen, und es ist ja kaum noch der Film eines Regisseurs, sondern wirklich der eines Künstlers. Was den Film zu einem solchen macht, ist nicht bloß die Künstlerwelt, in der die Geschichte angesiedelt ist, sondern die plastisch ausgearbeitete Eigenart der Figuren. Ob Operndiva oder Kneipenbesitzer, bei Bertolucci ist jeder ein Kreativer oder ein Verrückter und benimmt sich oft entgegengesetzt der Handlung bzw. der jeweiligen Situation und provoziert damit sein Umfeld aber vor allem seinen Zuschauer. Bei der Beerdigung seines Stiefvaters tritt Joe einer trauernden Frau auf den Fuß, damit sie nicht mehr weint. Und in Joe brodelt selbst das Schöpferische und Kreative, wenn er sich etwa an das Klavier setzt oder später das Schlagzeugsolo auf dem Essensbesteck hinlegt, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erlangen. Man wundert und fragt sich, warum er überhaupt so viel Ungewöhnliches tut, aber er ist ja auch ein gelangweilter Abkömmling einer Mutter, die sich mit Leib und Seele dem Kreativen verschrieben hat, der sich dennoch querstellt, um beachtet zu werden, denn er ist zudem ein amerikanischer Teenager, der plötzlich in Italien aufwächst.
Trotz seines melancholisches Grundtons, hat der Film aber dennoch heitere Akzente. Ein junger Roberto Benigni sorgt dafür als clownhafter Handwerker, der in einem unpassenden Augenblick eine Gardine anbringen will, während Mutter und Sohn ein ernstes Gespräch führen wollen.
Der Film schwappt irgendwann zu einem Art Road-Movie über, weil die Mutter in ihrem übertriebenen Eifer dem Sohn die Orte ihrer Jugend zeigen will. Joes leiblicher Vater ist Italiener, wir Zuschauer erahnen das seit Anbeginn dieser Geschichte, doch für Joe ist es ein Schock, der die Liebe/Hass-Beziehung zwischen Mutter und Sohn in neue Bahnen lenkt.
Bertolucci, Morricone, Verdi, Italien... der Film ist selbst eine Oper, denn er lehnt sich schließlich auch an Verdis Werk. Und der ewige Mond hängt draußen, oben in der Ferne, immer wieder zeigt er uns das eine Gesicht und verbirgt sein anderes Antlitz auf der für uns nicht sichtbaren Seite.

14. November 2012

CHINESISCHES ROULETTE

Rainer Werner Fassbinder (Deutschland, 1976)
Beinahe vergessen, dass sich dieser Film zwischendurch auch noch eingereiht hat, oder doch eher verdrängt, denn noch nie habe ich mir so sehnlich gewünscht, dass ein Fassbinder-Film zu Ende gehen würde.
Dabei ist der Inhalt mehr als verlockend: Ein Geschäftsmann belügt seine Frau mit einer angeblichen Geschäftsreise und fährt mit seiner Geliebten für ein Wochenende auf sein entlegenes Landhaus, wo er bei Ankunft gerade diese ebenfalls mit ihrem eigenen Geliebten überrascht. Der ganze Schlamassel passiert jedoch nicht zufällig, sondern wird hinterlistig eingefädelt. Den Höhepunkt des Filmes bildet schließlich das namensgebende chinesische Roulette, bei dem sich alle Charaktere beim gemütlichen Geplauder gegenseitig entlarven wollen. Die Wahrheit soll endlich ans Tageslicht kommen, jeder soll auftischen, was er vom anderen denkt, unterdrückte Gefühle kommen an die Oberfläche und zum Großteil natürlich keine guten, sonst wäre es ja kein Film.
Michael Ballhaus, das alte Spielkind: seine Kamera ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als mit den Charakteren, schlängelt sich an den unmöglichsten Stellen hindurch, doch leider oft an der Geschichte vorbei. Irgendwann langweilt man sich fast schon, trotz Anna Karina (wohl eine Leihgabe von Godard), trotz Margit Carstensen, Ulli Lommel und der restlichen Fassbinder-Horde.
Warum ist das bloß so, fragt man sich. Vielleicht stehen sich hier zwei entgegengesetzte Phänomene im Wege, nämlich die angedachte, kammerspielartige Nähe zu den Figuren und auf der anderen Seite Fassbinders nüchtern-gekünstelte Art. Wenn die beiden Paare in der Villa aufeinanderprallen, müsste das eigentlich einen schockierenden Wendepunkt auslösen, was bleibt ist jedoch der Eindruck eines theatralischen, sich selbst parodierenden Momentes. Was ja wiederum Fassbinders Stil war. Aber vielleicht ist dieser manchmal zu allgegenwärtig.

5. November 2012

DER PIANIST

Roman Polanski (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Polen, 2002)
Zu diesem Film haben sich wohl schon alle den Mund fusselig geredet und ihn akzeptiert oder akzeptieren müssen, trotz der teilweise übertriebenen Portraitierung des Protagonisten als beinahe unzerstörbaren Superhelden, der irgendwann nur noch alleine durch das zerbombte Warschau umherirrt. Thomas Kretschmann als Wilm Hosenfeld ist dann der aus der Schablone ausgeschnittene gute Nazi, (oder eben kein Nazi mehr, sondern ein guter Deutscher), aber warum auch nicht; wenigstens darf man es auch mal von der Seite betrachten.
Objektiv gesehen kann der Film ja auch nicht schlecht sein; er hat das Privileg der Holocaust-Thematik, die ihn zumindest niemals unwichtig erscheinen lassen kann. Es ist ja auch Polanskis persönlichster Film, zwar ohne die sonstigen, hinterlistig-teuflischen Einfälle, für die man ihn sonst so sehr schätzt, aber auch nicht schlechter; er nähert sich bloß einem sehr delikaten Thema.
Was der gebürtige Pole und Warschauer Ghetto-Flüchtling hier aber erneut so gekonnt meistert, ist seine ewige Thematik des Eingeschlossenen Protagonisten innerhalb seiner eigenen vier Wände. Eine Figur wie Szpilman eignet sich dafür noch viel besser, denn er liegt wirklich in so manch einem Unterschlupf wie ein Hering in der Dose, während draußen die Bomben fallen und jeder Jude geräuschlos in seinem Versteck hausen muss. Der Unterschied ist vielleicht, dass Polanski in anderen Filmen Einzelschicksale einkerkerte, hier aber steht der Pianist stellvertretend für ein ganzes Volk; er ist bloß eben Szpilman und nicht irgendjemand. Ein populärer Pianist mitten in den Wirrungen des Krieges unterstützt umso mehr denn Sinn und Unsinn dieser Zeit, wo das Individuum oftmals in der Uniform oder im Sträflingsanzug erstickt wurde. Um so herzzerreißender, wenn er dann schließlich für den Wehrmachtsoffizier spielen soll und die Musik über die Kriegstrümmer davongetragen wird, als einzig überlebendes und nicht tot zu kriegendes Phänomen.
Schöner Nebeneffekt beim erneuten Sehen: Katarzyna Figura erkenne ich tatsächlich zum ersten Mal, als brüllende Nachbarsfurie (und offensichtliche Nazi-Sympathisantin), die den verängstigten Szpilman in seinem Versteck ertappt hat. Solch ein kleiner Cameo-Auftritt ist fast schon wieder amüsant.

30. Oktober 2012

DER SCHIMMELREITER

Curt Oertel & Hans Deppe (Deutschland, 1933)
Vor einiger Zeit noch irgendwo auf Sylt unter einem Theodor-Storm-Straßenschild gestanden, dabei zurückgedacht an die alte Schulzeit, als man sich mit der Schimmelreiter-Thematik auseinandersetzen musste, ob man nun wollte oder nicht, und da plötzlich: die Oertel&Deppe-Variante winkt einem entgegen und das ist schön, weil die 80er-Verfilmungen nicht so besonders waren, schlecht und unerträglich sogar, wenn die Erinnerung nicht täuscht.
Doch wenn man bereits in den 30er Jahren die Geschichte um den Deichgrafen Hauke Haiens filmisch bebildert, dann wirkt das schon mal ein wenig authentischer, weil es wenigstens zeitlich ein bisschen näher am Originalwerk ist, auch wenn da immer noch ein halbes Jahrhundert dazwischenliegt.
Die Nordfriesen plagen sich seit Menschengedenken mit der Naturgewalt des Meeres, die Deiche sollen sie schützen, wo sie doch schon vor Alter zerkrümeln und der Boden schon längst von Nagetieren untergraben wurde. Und Theodor Storm ergänzt alles durch einen Spuk, das alte Pferdegerippe, das draußen im Sand und Nebel herumliegt und im Aberglaube der Dorfbewohner zum Leben erwacht. Hauke wird dann auch hinter seinem Rücken als Schimmelreiter bezeichnet, sein Ross hat er vom Teufel, dessen sind sich die Einheimischen ganz sicher. 
Der Deichgraf ist aber vor allem ein Mann der Wissenschaft, der bis tief in die Nacht an seinem neuen Deich herumtüftelt und ihn schließlich auch unter strengem Kommando und fester Überzeugung bauen lässt. Hauke ist eben ein disziplinierter Führer, ein bisschen geheimnisvoll und dämonisch, der mit eisernem Willen seine Ziele verfolgt und auch umsetzt; er hat nicht nur die Leute in seiner Hand, sondern will vor allem auch gegen die Wogen des Meeres ankämpfen. Ein heldenhafter Mann mit klarem Ziel vor Augen; was bleibt einem anderes übrig, als wieder mal die alten Nazis zu erwähnen, die hier kräftig Beifall geklatscht haben mussten; Hauke ist ja auch ein Mann, der später sogar für sein "Volk" in den Tod geht. Aber das ist alles unwichtig, wenn man die Bilder sieht, und die sind wahrhaft groß; Himmel und Wasser dominieren stets den Kamerablick, der Mensch bleibt winzig und unterlegen, auch wenn es die Kamera öfters mal versteht, aus voller Nähe entlang der vielen Dorfgesichter entlangzufahren, was irgendwie ungewöhnlich und innovativ für die damalige Zeit gewesen sein muss. Optisch wird es hier jedenfalls nie langweilig, auch wenn der Film mit dem wuchtigen Finale deutlich abschwächt, weil die Tricktechnik noch in den Kinderschuhen steckte und man das Naturphänomen des Sturmes nicht als ein solches voll und ganz genießen kann.

29. Oktober 2012

DIE SWINGMÄDCHEN

Maurizio Zaccaro (Italien, 2010)
Italien zählt zu den spannendsten Filmländern und doch so lange nichts mehr von dort angerührt, vielleicht weil es in jüngster Zeit nur noch selten am Zuschauer rüttelt. "Die besten Jahre" hat das noch geschafft, aber sonst herrscht so viel filmische Leere, da unten im Stiefel, oder die Italiener fühlen sich unwohl beim Gedanken, dass sie sich in die Neorealismo-Vergangenheit einreihen müssen, dabei müssen sie es gar nicht, es gibt ja immer was zu erzählen, auch nach der schwarzweißen Trümmerzeit und der späteren Fellini-Träumereien.
Maurizio Zaccaro versucht es zumindest und erzählt uns hier mit voller Inbrunst von den aus den Niederlanden stammenden Leschan-Schwestern, die während der Mussolini-Ära als swingendes Trio Lescano große Erfolge feierten. Eine klassische Tellerwäscher/Star-Thematik, und sie schrubben zunächst sogar wirklich jede Menge Geschirr bevor sie als Tänzerinnen entdeckt werden. Die Mädchen werden so populär in Italien, dass sie von Fans und lüsternen Blicken vollkommen umgarnt werden. Sie betreten schließlich das unantastbare Götterpodest, lassen die Herzen des gesamten Volkes erglühen und vor allem die Tristesse der damaligen (politischen) Lage vergessen; eine Illusion fürs Auge und Ohr.
So weit so gut. Der Regisseur hat einen Zweiteiler hingelegt, also kann er sich gemütlich zurücklehnen, man wundert sich auch, dass alles über lange Zeit so glatt läuft und wünscht sich endlich den dramaturgischen Bruch, doch so bald er kommt wird alles durchsichtiger, schwabbeliger, konstruierter. Wenn man von der Musolini-Ära erzählt, kommt man nicht umhin, irgendwann die Schwarzhemden an die Tür klopfen zu lassen. Das Show-Bussinnes wird ja schließlich auch vom Duce mitbestimmt, die drei jungen Frauen müssen sich fügen, politisch angehauchte Veranstaltungen musikalisch aufpeppen, denn was tut man nicht alles, um zu überleben. Dass ihre Mutter jüdische Wurzeln hat, erschwert die Sache zusätzlich und sie geraten schnell ins Visier der politischen Machtführer.
Das könnte alles sehr spannend und interessant sein, und doch schwächt der Film zunehmend ab, je mehr er versucht, das Geschehen von dem Faschismus-Thema zu überrollen, weil er in alte Muster verfällt, auch was Nebenfiguren angeht: die einst Schwachen und Enttäuschten schließen sich den Schwarzhemden an und werden zu Bestien, wohingegen diejenigen, die früher gute Positionen hatten im neuen Regime in Sackgassen geraten. Die wirkliche Bedrohung ist dann auch oft kaum spürbar, weil in dem Film zu viel brav gelächelt wird und er sich ständig bemüht, die Leschan-Schwestern von der glanzvollsten Seite darzustellen und der Faschismus damit beinahe zu einer musical-artigen Hintergrund-Kulisse degradiert wird.

24. Oktober 2012

LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT

Werner Herzog (Deutschland, 1971)
Werner hat es sich bisher bei keinem Thema leicht gemacht, sondern schüttet sich selbst tonnenweise Steine auf den Weg. Daran lässt sich aber auch die Qualität seiner Arbeit abmessen. 
Bei diesem Film scheinen die selbst aufgestellten Hürden sogar noch höher zu liegen; die Welt der Taubblinden steht hier im Mittelpunkt, er schafft es tatsächlich sich diesem schwierigen Thema anzunähern, eine Kommunikation aufzubauen, sogar eine Protagonistin zu ernennen, die trotz ihres tragischen Schicksals, das sie seit Kindheit erdulden muss, nie das Sprechen verlernt hat und uns viel über sich und ihre Leidensgenossen zu erzählen hat, denen sie im Verlauf des Filmes begegnet. Das ist auch vermutlich das Interessante an dem Film, nämlich der ständige Versuch einer Kontaktaufnahme zwischen der Hauptfigur und der anderen Taubblinden, die von Fall zu Fall unterschiedlich darunter leiden, sich oftmals sogar in ihrer eigenen Gefangenschaft vom "Menschsein" zu entfernen scheinen, bzw. bereits auch von Geburt an in völliger Isolation leben mussten, ohne jemals in der Lage gewesen zu sein, das Lorm-Alphabet zu erlernen, um durch Ertasten der Handinnenfläche mit anderen Menschen zu kommunizieren.
Aus der Reihe wichtiger Filme, über die man sich Gedanken machen sollte, steht dieser ziemlich weit vorne, auch wenn er sich, im Gegensatz zu anderen Herzog-Dokus, relativ unauffällig in seine Filmografie einzureihen scheint.

23. Oktober 2012

BLUE VALENTINE

Derek Cianfrance (USA, 2010)
Die Welt oder zumindest Hollywood braucht mehr Charakterfilme, so viel ist sicher. Was früher während der New Hollywood-Phase an ausgefeilten Beziehungsdramen an die Oberfläche kam, lässt sich am heutigen Stand fast an einer Hand abzählen.
Derek Cianfrance (nie gehört!) schafft das aber mit Leichtigkeit. Ein Kino, das nicht nur von seinen beiden Darstellern getragen, sondern gleich mitgerissen wird.
Er erzählt uns von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams); mit der Nennung beider Figuren wäre auch schon das komplette Thema umkreist, wäre es bloß nicht so verdammt schwierig, weil der Regisseur ihre Beziehungsgeschichte zeitlich zerstückelt, hin und her springt zwischen anfänglicher Harmonie und den Gefühlstrümmern einer tragischen Spätphase, die kein Happy End prophezeit.
Das ist eine so simple Geschichte, dass man kaum auf den genauen Inhalt eingehen muss, um sie nachzuvollziehen, und doch ist sie so furchtbar komplex und malträtiert ihre beiden Darsteller bis aufs Äußerste. Trauer ohne filmisches Wehleiden, Schmerz ohne weinerliche Taschentuch-Kino-Tendenz.
Und wie sehr der Film von seinen Darstellern lebt verdeutlicht vielleicht nichts so gut, wie die Szene als Dean angetrunken in der Klinik auftaucht, um seine Frau zu sehen, zuerst einen Streit mit ihr und schließlich mit einem Arzt beginnt, bis schließlich nicht nur Tränen fließen sondern beinahe auch noch Fäuste fliegen. Selbst die Kamera hat irgendwann genug davon, weil sie dann auf einmal lieber draußen bleibt und das Geschehen stumm durchs Fenster beobachtet.
Ein tieftrauriges Werk über Menschen, die sich gegenseitig auf ihrem stets pulsierenden Organ herumtrampeln. Oder kurz gesagt, ein Film über Menschen.
Und wenn Williams & Gosling einem nicht genügen, kann man noch etwas genauer hinhören und erkennt wie beinahe das gesamte Drama von der New Yorker Band Grizzly Bear zusammengehalten wird.

DAISIES

Věra Chytilová (Tschechoslowakei, 1966)
"Dasies" das ist mal nach langer Zeit wieder ein wirklicher Film fürs Auge; es ist so schwer ihn zu bändigen, ihn in die Enge zu treiben, brauchbare Sätze darüber zu formulieren.
Es geht um die fabelhafte Welt von Marie (blond = Ivana Karbanová) und Marie (brünett = Jitka Cerhová), bzw. das, was sie aus der uns vertrauten Welt machen, wie sie von den Gören (neu)interpretiert wird. Denn die beiden Maries haben kein Bock auf das Normale, Konventionelle, stellen lieber alles auf den Kopf, zerschnippeln ihren Alltag, um ihn puzzleartig  zusammenzusetzen, bis etwas neues, skurriles dabei herauskommt. Und von diesem Konzept scheint der Film selbst ebenso angesteckt zu sein, weil er nur so bebt und explodiert vor lauter surreal-symbolischer Einfälle, als würde er sich selbst in Schutt und Asche legen wollen.
Viel mehr muss man auch nicht sagen, seine eigenen Bilder erklären viel deutlicher, was er in seinen Form- und Farb-Fetzen erzählen möchte.

ALLES, WAS WIR GEBEN MUSSTEN

Mark Romanek (Großbritannien, 2010)
Mark Romanek scheint ja bisher vor allem ein fleißiger Musikvideo-Director zu sein, sonst gab's es noch "One Hour Photo" als akzeptablen Film.
Mit dieser Ishiguro-Verfilmung lässt er einen jedoch etwas kopfschüttelnd dastehen. Die Geschichte hat dabei so viel Potential: Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield stecken hier in einem englischen Internat, alles scheint erstmal normal zu sein, ein bisschen streng und muffig, wie das eben immer so ist, die ersten Liebeleien und Eifersüchteleien entwickeln sich, die Kids sind verträumte Seelen, die voller Spannung auf das Leben danach blicken. 
Und an dieser Stelle schleicht sich plötzlich das Drama hinein, das sogar Sci-Fi-Ausmaße annimmt: eine junge Lehrerin verrät nämlich den Schülern den eigentlichen Zweck des Internatsaufenthalts. Alle Kinder sind in Wirklichkeit Klone, denen das gleiche Schicksal bevorsteht: sie sollen zukünftig als Organspender dienen, eine eigene Zukunft haben sich nicht. Mit 18 verlassen sie das Internat und leben in sogenannten Cottages, in den umliegenden Orten, wo sie auf den Zeitpunkt ihrer Spende warten.
Die Tragödie und die Bedrohung sind also allgegenwärtig und doch nicht wirklich spürbar. Woran das wirklich liegen mag lässt sich auch schwer festmachen. Vielleicht an dem mangelnden Tatendrang der drei Figuren, denen zwar ihr vorprogrammiertes Schicksal große Kopfzerbrechen bereitet, es aber von ihnen zu offenkundig hingenommen wird, so dass sie lediglich mit traurigen Gesichtern durch die Gegend dackeln, statt aktiv etwas dagegen zu unternehmen. Größtes inhaltliches Manko ist der Aspekt der Gefangenschaft und Abhängigkeit, der mit dem Verlassen des Internats zunehmend verwässert wird, weil die Gefahr kaum noch personifiziert und greifbar ist. Der Film arbeitet mit so vielen Landschaftsaufnahmen und endlosen Weiten, dass man sich permanent fragt, warum die Drei nicht einfach weglaufen, wo sie sich doch eh frei bewegen können. Der weinerliche Off-Kommentar von Mulligan raubt der Geschichte schließlich den letzten Funken Geheimnis. Als würden dem Film selbst paar wichtige Organe fehlen.

TOTE TRAGEN KEINE KAROS

Carl Reiner (USA, 1982)
Diese Film Noir-Blödelei von Steve Martin und Carl Reiner (man muss beide in einem Zug nennen, weil Martin auch am Drehbuch beteiligt war), lief vor einiger Zeit im TV, machte mich neugierig in den wenigen gesehenen Szenen, weil man an so vieles zurückerinnert wird und jetzt zu großer Freude, bekommt man den Film tatsächlich hinterhergeschmissen.
Die Herzen beider Männer schlagen ganz eindeutig für den amerikanischen Kriminalfilm der 40er-Jahre, eine Hommage war also mehr als hinfällig, doch sie packen es mit Humor an und versammeln hier endlose Zitate aus jener Zeit, um an die alten Trenchcoat-Träger und hinterlistige Diven zu erinnern.
Der Plot ist mehr als wirr und verrückt, alles dreht sich hier letztendlich um Schimmelkäse und eine Horde Nazis als Übeltäter, die mal wieder die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Doch bis sich dieser Fall überhaupt aufklärt und in gewohnter Film Noir-Manie in der Finalszene von Gut & Böse mit vielen Worten enträtselt wird, muss Steve Martin als Privatdetektiv erst mal hinter all den Schlamassel kommen, über Leichen stolpern, jeden Schwarzweiß-Winkel dieses Films nach Hinweisen absuchen (zumindest so tun) und mehrmals in den gleichen Arm angeschossen werden. An seiner Seite ist stets seine attraktive Klientin und die obligatorische Femme fatale Juliet (Rachel Ward, noch kurz vor den Dornenvögeln). Einer der Running Gags ist dann ihre Gabe, Pistolenkugeln aus seinen Wunden heraussaugen zu können.
Der Film wäre aber nicht dieser Film, wenn er nicht hauptsächlich von der Idee leben würde, seine Handlung durchgehend durch Original-Szenen alter Kriminal- und Film Noir-Klassiker zu zerstückeln. Oder besser gesagt: er wirkt sogar, als wäre die Geschichte auf diese Szenen angepasst worden, weil Steve Martin in cleveren Filmschnitten plötzlich mit Barbara Stanwyck, Ava Gardner, Burt Lancaster, Humphrey Bogart, Cary Grant, Ingrid Bergman und vielen anderen konfrontiert wird. Der Film ist in s/w gedreht, also fügt sich alles optisch gut zusammen; eine tiefe Verbeugung noch vor dem Dekor, dem Production Design und den Kostümbildern, die diese visuelle Einheit erst ermöglicht haben.
Klamauk bleibt es trotzdem. Der oft absurde Humor wirkt dann oft mehr kindlich aufdringlich als, dass er im Dienste einer gut durchdachten Satire stehen würde. Trotz optischer Raffinesse ein Werk, das sich rasch abnutzt, aber immerhin wieder Lust auf die Originale macht, vor denen er sich auf vergnügliche Weise vebeugt.

16. Oktober 2012

KINDER DES OLYMP

Marcel Carné (Frankreich, 1945)
Marcel Carné, einer von den Filmemachern, die ihr Herz nach außen tragen und unter lautem Pochen und Hämmern Wunder vollbringen. Zugegeben: mittlerweile zugestaubte Wunder, wie eben dieser Film, den man nur schwer von seiner Staubschicht befreien kann, dessen Qualität und Reiz schon museale Züge trägt; er ist wie ein altes Schwarz-Weiß-Bilderbuch, eine filigrane Süßigkeiten-Schachtel aus dem Oma-Cafe und doch lebt und atmet er immer noch weiter, dank Baptiste, der Pierrot-Pantomime, weil er den ganzen Film mit sich reißt, in dem er auf der Bühne schweigt und doch so viel sagt.
Aber eigentlich dreht (und versammelt) sich alles um die Schauspielerin Garance, die gleich von mehreren, sehr unterschiedlichen Männern umzingelt wird. Carné schafft hier eine Liebesgeschichte in ihrer reinsten Form, in großen Gesten, provozierte damals sicherlich manch ein verweintes Auge, gar triefende Nasen, der Kitsch ist zum Greifen nahe, doch man verzeiht dem Regisseur, weil er sich durchgehend das Motiv zu Nutze macht, das Leben selbst sei eine große Bühne. Und die Männer schaffen es eh nicht, an das Herz von Garance zu gelangen, diese Gauner, Schauspieler, Grafen und Pantomimen; sehen ihr eigenes Scheitern ein und suchen eher nach Möglichkeiten, wie sie sich wieder von ihr lösen könnten.
Die Zeit verstreicht, das Karusell dreht sich weiter, Garance gibt zu, dass sie schon immer Baptiste liebte, und dieser ist ganz hin- und hergezerrt, weil er längst verheiratet ist und einen Sohn hat, doch Garance erscheint wieder vor ihm und die alte Liebe entflammt, auch wenn er sie doch nicht bekommen kann, weil er im Getümmel der Karnevalisten untergeht, während sie in der Kutsche davonfährt und der Vorhang endgültig fällt.
Das ist die detailverliebte Arbeit eines Film-Stuckatuers und ein interessantes Zeitdokument zugleich, wie etwas derartig aufwändiges überhaupt zur damaligen Zeit entstehen konnte, wo doch das von den Nazis besetzte Frankreich unter finanzieller und menschlicher Not zu leiden hatte, alles strenger Überwachung und Zensur unterlag und selbst die im Film reich gedeckten Essenstische einfach leergegessen wurden. Aber Baptiste bleibt in all den menschlichen Trümmern eine Filmfigur für alle Ewigkeiten.

11. Oktober 2012

DIE HÖRIGE

Alf Sjöberg (Schweden, 1944)
Sjöbergs Film hat das Privileg, sich in die Bergman-Edition einreihen zu dürfen, deswegen nimmt man ihn auch überhaupt wahr, aber er basiert ja auch auf dem Drehbuch des großen Schwedens und gehört somit zu seinen ersten Gehversuchen, bleibt bloß die große Frage offen, ob der Film besser geworden wäre, hätte man den damals filmisch unerfahrenen Ingmar auf den Regiestuhl gelassen.
Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht der gefürchtete und verabscheute Lateinlehrer Caligula, der seinen Schülern tagtäglich die Ohren langzieht und sich mit seinem Rohstock den nötigen Respekt verschafft. Keiner kommt um ihn herum, keiner wird verschont, jeder wird von dem sadistischen Lehrer bloßgestellt und entwürdigt. Jan-Erik gehört auch zu den bevorstehenden Abiturienten, auch sein Leben wird ihm schwer gemacht, er sucht Zuflucht bei seiner Freundin Bertha, die jedoch sogar nachts von Caligula heimgesucht wird, bis sie eines Tages von Jan-Erik tot aufgefunden wird.
Bergman & Sjöberg schlagen hier gleich mehrere Fliegen mit einer Klatsche: die erzieherischen Maßnahmen werden an den Pranger gestellt, weil die Jugend schweißgebadet ackert, jedoch mit geringem Erfolg, weil das Schulsystem eine unüberwindbare Hürde darstellt, die sie lediglich krank ins Bett zurückwirft, so dass schließlich der Hausarzt den absurden Wahnsinn des Leistungsdrucks zerpflücken muss, während sich die Eltern auf die Seite der Lehrkräfte stellen. Gleichzeitig schwenkt der Symbolgehalt der Caligula-Figur zur damaligen politischen Situation und soll angeblich Züge von Heinrich Himmler tragen. Am Ende ist der herrische Lateinlehrer nichts als ein kleines Häufchen Elend, der an Einsamkeit und Mangel an Liebe leidet und dies nur überwindet, wenn er nach außen den eisernen Sadisten raushängt. Und schon gibt es etwas, was man wieder hinterfragen könnte, was die ganze Sache zeitlos macht. Wäre sich der Film bloß nicht selbst im Weg, weil er sich so vieles vornimmt. Aber hier tat die Bergman-Bestie ja erst ein verschlafenes Auge auf, bevor sie anschließend erwachte und jahrzehntelang auf uns losgelassen wurde.

4. Oktober 2012

GEORGE HARRISON: LIVING IN THE MATERIAL WORLD

Martin Scorsese (USA, 2011)
Martin Scorsese hat ja mittlerweile reichlich Musik-Dokumentationen in seinem Gesamtwerk angesammelt, er holt sich dann auch gleich die ganz großen vor die Linse (The Band, Dylan, Stones, etc), bzw. sammelt historische Film-Schnippsel, schaufelt sie zusammen, recherchiert zusätzlich und fügt alles puzzleartig aneinander, bis am Ende tatsächlich wieder ein guter Scorsese-Film entsteht, der sogar oft so manch einen seiner Spielfilme in den Schatten stellt.
Sein George Harrison-Film kann sich da ohne Weiteres einreihen. Um die Beatles kommt man nicht drumherum, wozu auch, er war nun mal einer, der Fokus liegt trotzdem auf George, er ist ja neben Lennon vermutlich die farbenfrohste Figur unter den phantastischen Vier aus Liverpool, alleine seine lebenslangen, spirituellen Ausflüge und das Indien-Faible bietet reichlich Erzählstoff; er war ja schließlich einer der ersten, der diese beiden Welten vor allem musikalisch zusammenbrachte und sie auch in der europäischen bzw. westlichen Kultur gekonnt einzubringen verstand. Irgendwann dominiert zwar dieses Thema den gesamten Film, aber vermutlich dominierte es genauso Georges Leben. Man schmunzelt weil die Beatles unnachgiebig versuchen, in weiten Gewändern die totale Erleuchtung zu finden und in Tv-Talkshows über ihre Methoden der befreienden und bewusstseinserweiternden Gehirnakrobatik diskutieren. Das mit der Sitar hat Harrison ja dann doch wieder aufgegeben, trotz vieler Lehrstunden bei Großmeister Ravi Shankar; Harrison war am Ende eben doch ein Rockmusiker und ein Mann des Abendlandes. Interessant ist, dass der Mord an Lennon fast schon zur Nebensache wird, wohingegen der versuchte Mord an dem bereits an Krebs erkrankten Harrison in kleinsten Details von Olivia Harrison nacherzählt wird. Es geht hier eben um George und nicht um John.
Ringo, McCartney und Ono kommen natürlich auch oft zu Wort, der erste witzelt immer noch viel herum, kämpft aber dann doch mit den Tränen, als es um den endgültigen Abschied von seinem Bandkollegen und guten Freund geht.
Harrisons Solo-Karriere wird aufgerollt, Clapton erzählt wie er sich damals in die Ehefrau des Beatle-Gitarristen verguckte und irgendwann sitzen wir mit dem alten George Martin und Harrisons Sohnemann am Mischpult und entdecken bis dahin ungehörte Gitarrenspuren bei "Here come's the Sun". Solche Momente, oder auch die vielen George-mit-Ukulele-Szenen (er hat die Zwergengitarren scheinbar wirklich überallhin mitgeschleppt), machen das Gesamtpuzzle um so detailreicher und interessanter; schade bloß, dass der Film am Ende so düster im Nichts erlischt.

LIEBE

Michael Haneke (Frankreich, Deutschland, Österreich, 2012)
Haneke macht es uns wieder nicht leicht, aber in gewisser Weise zugänglicher als sonst. Diesmal müssen wir uns nicht mit psychopathischen Jugendlichen rumschlagen, Endzeitstimmungen ausharren, uns von Unbekannten per Video überwachen lassen oder uns im schwarzweißen Fontane-Deutschland rumkommandieren lassen. Heiter und sonnig ist es trotzdem nicht und wird es auch niemals sein und das ist auch gut so, denn jemand muss schließlich auch in die Abgründe hinabschauen.
Trintignant (alt ist er geworden, der Gute!) soll für Haneke der eigentliche Antrieb für dieses Projekt gewesen sein. Gut, dass der inzwischen erheblich gealterte Schauspieler zugesagt hat. Haneke baut also die Wohnung seiner eigenen Eltern nach, um sich am Set wohlzufühlen und mit der Location vertraut zu sein. Bei dem Musikprofessoren-Ehepaar Anne (Emmanuelle Riva, kennt man hauptsächlich als junge Frau in "Hiroshima mon amour") und Georges (Jean-Louis Trintignant) geht es zwar nicht um das Schicksal seiner eigenen Eltern, aber durch die örtliche Nähe, die sich der Regisseur selbst erschaffen hat, kann er wenigstens sicherstellen, dass die Wohnung zum eigenständigen Charakter wird. Die gesamte Handlung nistet sich dort ein und lässt uns selten heraus, bezieht lediglich ein paar wenige Außenstehende mit ein, wie etwa die Tochter (Isabelle Huppert) der beiden Musiker-Senioren.
Annes Krankheit beginnt mit ihrem katatonischen Anfall während des Frühstücks. Ein tragisches Ereignis, das dennoch zu einem prägenden Filmmoment führt, als Georges versucht, sie aus dem tranceähnlichen Zustand zu erwecken, während er ihr Gesicht mit beiden Händen umklammert und auf sie einredet. Das ist der Startschuss zum Leidensweg. Anne erleidet einen Schlaganfall, muss eine erfolglose Operation über sich ergehen lassen und kommt halb gelähmt im Rollstuhl wieder nach Hause. Pflegerinnen kommen und gehen, Georges versucht die Situation alleine zu bewältigen, die beiden isolieren sich zunehmend von der Außenwelt, doch er möchte sie um nichts in der Welt ins Krankenhaus abliefern, sondern bis zum Ende an ihrer Seite bleiben. Liebe bis zum bitteren Ende und auch darüber hinaus.
Was nach einem weinerlichen RTL-Fernseh-Drama für ewig schniefende Taschentuch-Hausfrauen klingt, distanziert sich jedoch von einer solchen trivialen Zielsetzung. Haneke analysiert vor allem den Umgang mit der Krankheit, blickt also auf Georges, der sich in Tagträume flüchtet, in die Erinnerung an alte Zeiten und an Halluzinationen, alles sei wieder (bzw. immer noch) in bester Ordnung.
Doch Anne verliert zunehmend die Kontrolle über ihren Körper und Geist, die Kommunikation wird schwieriger, bruchstückhafter. Ihr Mann nimmt das alles tapfer hin bis zum schockierenden Höhepunkt, den man nicht verraten darf, in dem Hanekes Handschrift auch diesmal spürbar wird, weil er plötzlich provoziert und wichtige Fragen stellt. Das erwartet man schließlich auch von ihm, wo er sich bis dahin lediglich in leisen Schritten dem Martyrium des Leidens und des langsamen Verfalls nähert.

DIE FLIEGE

David Cronenberg (USA, 1986)
Und dann kam ja noch Cronenbergs Fliege dazwischengeflogen, schon beinahe vergessen, habe es tatsächlich geschafft, diesen Film bisher nie zu sehen.
Die alte Fassung von Kurt Neumann ging mit dem Thema etwas anders um, hielt sich vielleicht mehr an die Vorlage, wer weiß. Bei Neumann jedenfalls geht der Teleportationsversuch des Wissenschaftlers Brundle natürlich auch in die Hose, weil sich im Zielgerät eine Fliege einnistet, doch führt das lediglich dazu (lediglich ist gut!), dass die Köpfe beider Lebewesen (Mensch und Fliege) ausgetauscht werden.
Cronenberg geht weiter: Brundle mutiert schrittweise ganzkörperlich zur selbsternannten Brundlefliege, weil die DNS beider Geschöpfe verschmilzt. Zunächst fühlt er sich wie neugeboren, weil ihm die Verwandlung übermenschliche Kräfte verleiht, doch nach und nach nimmt die Metamorphose monströse Züge an und da hat seine Freundin, die Journalistin Veronica (Geena Davis) natürlich auch keine Lust mehr auf Brundle in seiner neuen Erscheinung. Als wäre das schon nicht genug, ist sie auch noch von ihm schwanger, ein Grund besorgt zu sein und die Geschichte in neue Sphären zu lenken. Sie versucht sich immer mehr von Brundle zu distanzieren, der mit dem Menschsein kaum noch etwas zu tun hat, der Verwandlungsprozess geht immer weiter und der Film gipfelt in dem irrsinnigen Vorhaben, das Brudle-Monster, Veronica und ihr Ungeborenes zu einer gemeinsamen, neuen Lebensform zu verschmelzen, doch glücklicherweise bleibt uns das verwehrt. Der Film schmeißt uns die großen Fragen entgegen, über den Menschen, der mit seinen Experimenten zu weit geht, der Gott spielt, der sein Leben und sich selbst perfektionieren will, der in seinen Genen herumstochert, der in diesem Fall vor allem anders ist und von der Gesellschaft ausgestoßen wird. Gena Davis vergleicht das im Interview mit dem Mitleid, das man einem krebskranken Angehörigen entgegenbringt, ob man sich mit einer solchen "Last" noch abgeben will und wie man vor allem damit umgeht, wenn man von einem kranken Mann geschwängert wurde. Eine heikle Interpretation für eine Geschichte mit einem bereits dermaßen bitteren Nachgeschmack. Doof und verrückt ist das alles, aber in seiner 80er-Jahre-Muffigkeit recht unterhaltsam.

RIFF-PIRATEN

Alfred Hitchcock (Großbritannien, 1939)
Das man so etwas noch erleben darf: ein Piratenfilm von Hitchcock, so nenne ich seine erste du Maurier-Verfilmung jetzt einfach, ("Rebecca" folgte direkt danach) weil es ja auch einer ist, bis auf den kleinen Unterschied, dass er mit der Mary (Maureen O’Hara) eine für ein solches Genre viel zu ausgetüftelte Frauenfigur vorweisen kann, die nicht einfach nur hübsch anzusehen ist und von Edelmännern gegen säbelschwingende Raufbolde beschützt werden muss, sondern selbst tatkräftig ins Geschehen eingreift.
Es ist nämlich so: Mary ist eine Waise, kommt nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrem Onkel & Tante nach Cornwall, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die beiden führen in dieser ungemütlichen, felsig-stürmischen Umgebung eine Gastwirtschaft mit dem Namen "Jamaica Inn", ein beliebter Versammlungsort für üble Visagen, eine Piratenbande, deren Anführer kein geringerer als Marys Onkel Joss ist. Die Bande hat sich darauf spezialisiert, vorbeikommenden Schiffen falsche Leuchtsignale zu senden, sie stranden zu lassen, auszurauben und die gesamte Mannschaft zu ermorden. Die Fäden werden vom Friedensrichter Pengallan (Charles Laughton) gezogen; ein herrischer, selbstverliebter Lebemann und heimlicher Oberboss der Strandpiraten, der sich durch die kriminelle Schandtaten ein Luxusleben sichern konnte. Und man merkt gleich, wie aufdringlich dominant Charles Laughton in diesem Film ist, eine theatralische Karikatur seiner selbst. Hitchcock war diese Zusammenarbeit zuwider, aber der Film war ja auch ein Schnellschuss, kurz bevor der Vertrag mit O. Selznick dem Suspence-Meister die Tore zu Amerika/Hollywood öffnete.
Mary sperrt jedenfalls Ohren und Augen auf und merkt schnell, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, kann später sogar das trügerische Signalfeuer am Strand bändigen und ein Schiff vorm Untergang retten und einer der Piraten erweist sich als Regierungsagent (die Liebesgeschichte in diesem Film!), was durch die Doppelbödigkeit doch wieder Hitchcock erahnen lässt und nicht vollständig in einem abenteuerlichen Kostümschinken abdriftet, der mehr an den Anfangsteil von Stevensons "Schatzinsel" erinnert, als an die Handschrift des guten alten Alfred H.

27. September 2012

THE GREAT ST. LOUIS BANK ROBBERY

Charles Guggenheim, John Stix (USA, 1959)
Dieser Film brauchte anscheinend gleich zwei Regisseure, auch wenn da nicht wirklich viel dahintersteckt, vielleicht kamen sie sich aber auch öfters in die Quere, weswegen der Film so durchwachsen ist.
Ein sehr junger Steve McQueen lockt hier vor allem an den Bildschirm, hier der Milchbub in Collegejacke, der an einem Überfall auf die Bank von St. Louis als Fahrer mitmachen soll. Die restliche Gang besteht aus fiesen Gangstervisagen, alles natürlich erfahrene, vom Leben gezeichnete Schurken, trauen dem Jungen nicht, der sich von seinem Anteil die Rückkehr ans College sichern will. Seine Ex-Freundin kommt dann ins Spiel, auch wenn wir aus den harten Gangstersprüchen immer wieder beigebracht bekommen, dass man nichts mit Weibern anfangen sollte, weil sie ablenken und zu viel quatschen. McQueen wird natürlich auch weich und verplappert sich, dann kommt die beste Szene, als seine Freundin von Gewissensbissen geplagt, doch noch die Polizei auf den bevorstehenden Raubüberfall aufmerksam macht, in dem sie mit ihrem Lippenstift einen Hinweis auf die Fensterscheibe der Bank kritzelt. Der ganze Überfall, so präzise er auch geplant wird, verläuft am Ende natürlich alles andere als erfolgreich, sonst wär's kein Film mit Blut und Drama. Einige gute Szenen und Bilder findet man hier genauso wie unbeholfen inszenierte Momente und die katastrophale, deutsche Neu-Synchro gib diesem späten Film-Noir den endgültigen Stoß in die Grube mit den vergessenen Filmen.

ZEIT ZU LEBEN UND ZEIT ZU STERBEN

Douglas Sirk (USA, 1958)  
Vielleicht doch Sirks bester Film? Sein sonst so großes Talent, kleine, menschliche Tragödien zu meterhohen Dramen aufzublasen, übersteigt er einerseits in diesem Film, weil der zweite Weltkrieg als Kulisse alle menschlichen Schicksale zusammenbündelt, aber eben doch als geschichtliches Phänomen die Einzelhandlungen überschattet und in einen Sog aus Ungewissheit, Schutt und Asche mit sich reißt.
Der deutsche Soldat Gräber (John Gavin) erhält nach seinem Rückzug aus Russland endlich den verdienten Heimaturlaub, muss jedoch feststellen, dass von seiner Heimatstadt nicht mehr viel stehen geblieben ist. Verzweifelt sucht er nach seinem Elternhaus, irrt zwischen beeindruckenden Großstadtruinen und lernt Elisabeth (Liselotte Pulver) kennen, die Tochter des damaligen Familien-Arztes, der mittlerweile ins KZ deportiert wurde.
Eine andere Figur ist Gräbers alter Schulfreund Binding (Thayer David), ein Kreisleiter mit protziger Villa, der große Nazi mit Beziehungen, der im materiellen Überschuss beinahe untergeht, Gräber aber mit offenen Armen empfängt und ihm seine Hilfe anbietet.
Gräber und Elisabeth gelingt es schließlich in den Wirren der Kriegszeit zu heiraten, doch die Urlaubszeit verrinnt, weder kann er seine Angehörigen ausfindig machen, noch Binding dazu veranlassen, Elisabeths Vater aus dem KZ zu holen. Die Ehe der beiden ist letztendlich durch den bevorstehenden Front-Einsatz Gräbers gefährdet.
Ein sehr junger Klaus Kinski ist sogar auch dabei, schon hier in einer weniger sympathischen Rolle, jenes aggressiven Untersturmführers, der Gräber die Asche von Elisabeths Vater in einer Zigarrenkiste überreicht.
In seiner Opulenz klingt das alles mehr nach David Lean, als nach Douglas Sirk, das macht den Film schon anders, noch ungewöhnlicher wird er durch den Verzicht auf ein Happy End, man muss es leider erwähnen, weil hier die Stärke des Filmes liegt: es gibt keine glückliche Wiedervereinigung mit der Ehefrau, nachdem sie ihrem Mann an der Front per Brief mitteilt, sie sei schwanger. Sirk lässt seinen Helden sterben, erschossen von einem Zivilisten, den er kurz davor guten Herzens befreit hat.
Ähnlich wie Renoir in seiner "großen Illusion" lässt uns Sirk auch desillusioniert in die Zukunft schauen und hinterfragt mit dem sterbenden Helden den Sinn und Unsinn dieser tragischen Zeit.

WINTER PASSING

Adam Rapp (USA, 2006)
Dass dieser Film bloß ein Winzling ist, merkt man daran, dass er kaum nachhallt und bereits nach einer Woche großteils aus dem Gedächtnis verschwindet. Aber vielleicht braucht man sie auch, die Eintagsfliegen unter den Filmen, die für einen netten Filmabend sorgen, die man auch gerne mögen kann, die aber wie eine leichte Brise davonschweifen.
"Winter Passing" ist so ein Kandidat, eine nett ausschauende, aber risikofreie Zooey Deschanel spielt hier die junge Theaterschauspielerin Reese, die in einer Bar arbeitet, deren Mutter verstorben ist, die mit der Männerwelt kein wirkliches Glück hat, also Grund genug, um mit Drogen zu experimentieren, ein Leben, das aus den Fugen zu geraten droht, ganz klar, der totale Absturz wird aber aufgehalten, weil Reese 150 Briefe geerbt hat; ein Briefwechsel zwischen ihren Eltern in jungen Jahren; die Mutter war Künstlerin, der Vater ist Schriftsteller, lebt immer noch irgendwo in Michigan, hat hohen Bekanntheitsgrad, so dass eine Verlegerin an Reeses Tür klopft, die großes Interesse an der Korrespondenz zeigt.
Dann folgt der typische hollywood'sche Trick: Reese will zuerst natürlich nichts davon wissen, ist aber von dem vielen Geld doch noch angelockt und macht sich auf den Weg zu ihrem alten Herrn, der mittlerweile in einer Garage haust (von einem kauzigen Ed Harris gespielt), überall häufen sich Bücher an; im Haus lebt auch seine ehemalige Studentin Shelley (Amelia Warner) und Corbit, ein freakiger, etwas zurückgebliebener Will Ferrell, der sich die Augen schminkt, sich mit Reeses Vater zum Golfen im Zimmer einschließt, wenn er nicht gerade E-Gitarre spielt.
Der Weg für eine ungewöhnliche und skurrile Familiengeschichte ist also geebnet, schade nur dass sich die meisten Figuren dermaßen ausgeglichen und ohne deutliche Macken und Kanten durch das Geschehen mogeln. Adam Rapp lässt außerdem so manches wieder fallen, was er somit nur als Auslöser für die Handlung nutzte. Die Verlegerin als antreibende Figur bleibt irgendwo auf der Strecke und Reeses Drogenproblem ist dann auch nur Schnee von gestern. Oder ich hab was verschlafen. Oder der Film ist doch nur guter Mittelmaß.

NÄCHTLICHE DIAMANTEN

Jan Němec (Tschechoslowakei, 1964)
Früher konnte man solche Dachbodenfunde wie "Nächtliche Diamanten" wenigstens noch auf TVP Kultura erwischen, der Sender verschwand jedoch spurlos, nun muss man bei osteuropäischen Leckerbissen auf die britische "Second Run DVD"-Reihe zurückgreifen, was durch den Raritätsfaktor das Sehvergnügen um so mehr steigert.
Jan Němec verfilmt hier die Vorlage von Arnost Lustig, bei dem es jedoch alles andere als "lustig" zugeht. Der Schriftsteller beschreibt darin seine eigenen Erfahrungen, als er aus einem Güterzug flüchten konnte, der ihn 1945 ins Konzentrationslager Dachau bringen sollte.
Im Film fliehen zwei Jungs aus einem Zug, der den gleichen, todbringenden Zielbahnhof ansteuert. Kaum serviert uns der Film seine ersten Bilder, schon sind wir mitten im Geschehen, die beiden rennen um ihr Leben und bald sind sie von der schwarzweißen Düsternis der Wälder umschlungen, wo sie alleine auf sich gestellt sind, immer weiter rennend, die Kamera klebt an ihren Fersen, fängt sie stets aus unmittelbarer Nähe ein, so dass der Zuschauer genauso wenig abschätzen kann, wie weit und ob überhaupt Verfolger hinterhereilen.
Die jungen Männer sind allen Wetterverhältnissen ausgesetzt, durchqueren, Wälder, Wiesen und felsigen Boden, aber auch die eigene Vergangenheit, die sich bruchstückhaft in Rückblenden immer wieder einschleicht. Die Füße schmerzen, die Ameisen krabbeln im Gesicht, der Hunger wächst, Brot und Milch werden von Bauern ergattert, bis die beiden schließlich einem deutschen Jagdverein in die Hände fallen. Die Lage spitzt sich zu, für die Jäger ist es eine Art Spiel, sie haben jetzt zwei Gefangene, die ihnen vollkommen ausgeliefert sind.
Aber man möchte ja nichts verraten. Jan Němec inszeniert vollkommen schnörkellos, verzichtet weitgehend auf Musik und und Dialoge; es ist eher der Blick des unsichtbaren Voyeurs, der niemals von der Seite seiner Opfer weicht. Mehr Nähe zum Geschehen geht kaum noch.

26. September 2012

DER ZAUBERER VON OZ

Victor Fleming (USA, 1939)
Die Story kennt jeder, was soll man da noch erzählen, außer dass Fleming eine klare Grenze zwischen Schein und Sein zieht und sich bewusst dafür entscheidet, Dorothys Reise als Traum darzustellen, zuerst ist also alles monochrom im sandigen Sepia-Ton getunkt, bevor das Zauberland dann in voller Farbpracht erwacht. Die Besetzung der Hauptrolle soll ein harter Kampf gewesen sein, bevor man sich entschied, Judy Garland in Kleinmädchen-Klamotten zu stecken und mit dem Hund Toto und ihren Kumpanen (Vogelscheuche, Zinnmann und Löwe) Richtung Schloss des großen Oz-Zauberers ziehen zu lassen. Aber es ist nun mal ein Musical-Film und Garland kann singen und tut es auch; "Somewhere.." ist bis heute ein Gossenhauer und erobert jüngst in Ukulele-Variante die Herzen seiner Radiozuhörer. Und wie merkwürdig erscheint dieses kindliche Spektakel, all die Plastik-Vegetation, aufgemalten Landschaften und umher springenden Bewohner, die fröhlich ihre Lieder trällern, wenn man sich dann wieder vergegenwärtigt, dass der gleiche Mann im gleichen Jahr "Vom Winde verweht" auf die Beine stellte und damit zwei der Non-Plus-Ultra-Klassiker erschuf. Das muss man ihm erst mal nachmachen, unabhängig davon, wie man die beiden Filme findet.
"Der Zauberer von Oz" verzaubert ja immer noch auf seine moderige Art, lässt einen weiterhin schmunzeln, weil z.B. der Zinnmann (wie er in der deutschen Synchro genannt wird), sowieso niemals rosten könnte, wäre er wirklich aus Zinn. Und als Dorothy nach all den Strapazen kurz vor der Heimfahrt gerade der Vogelscheuche mitteilt, dass sie ihn wohl am meisten vermissen wird, während Löwe und Zinnmann nur dämlich danebenstehen... da geht die kumpelhafte Gleichberechtigung natürlich flöten. Die Moral von der Geschicht bleibt "Home Sweet Home", vielleicht um Amerika vor dem Einmarsch in Europa bzw. Nazideutschland zu bewahren; das fremde Zauberland ist ja auch trotz seiner bunten Farben ein (Aus)Land voller mysteriöser Gefahren.

23. September 2012

HOLY MOTORS

Leos Carax (Frankreich, 2012)
Georges Franjus "Augen ohne Gesicht" scheint für verschiedene Filmemacher eine wahre Inspirationsquelle zu sein. Tornatores "Die Unbekannte" hatte Bezüge zu dem alten Schauermärchen, Almodovars "Die Haut, in der ich wohne" ist auch nicht weit entfernt und Leos Carax baut in seinem neuen Film schließlich das endgültige Zitat ein, weil er die Chauffeurin des Protagonisten mit Édith Scob besetzt, die schon in Franjus Film die Titelrolle spiele, in "Holy Motors" darf sie die Maske erneut aufsetzen.
Aber das ist eigentlich fast nur eine Nebensache im neuen Carax-Film, der schon mit "Liebenden von Pont-Neuf" seinen Hauptdarsteller Denis Lavant auf die linke Seite stülpte, hier aber alle Grenzen und Regeln des Kinos mit Leichtigkeit durchbricht.
Lavant, der Mensch aus Gummi, ist deutlich gealtert seit der letzten Zusammenarbeit mit Carax, aber genau so brauchen wir ihn auch, den vom Leben Gezeichneten und Gereiften, der nach einem merkwürdigen Traum morgens aufsteht, die Familie verabschiedet und mit Aktenkoffer seinem Job nachgeht. Lavant bzw. Oscar wird von Céline (Édith Scob) in einer Limousine abgeholt, der Irrsinn des Films beginnt, Oscar holt ständig Akten heraus, auf denen ihm seine Aufträge mitgeteilt werden, das riesige Auto wird zu einer Art Kostümverleih, er muss von einem Pariser Ort zum nächsten hetzen, stets im Zeitplan bleiben, sich von Job zu Job umziehen, verkleiden, schminken, eine neue Identität annehmen. Jedes Mal verlässt er als neue Figur das "Taxi", ob als alte Bettlerin, als Performer in einen Motion-Capture-Anzug, oder rennt mit roter Mähne durch den Pariser Friedhof, frisst Blumen von den Gräbern, beißt anderen die Finger ab, entführt ein Model (Eva Mendez), ist Auftragskiller, Vater einer Tochter in Teenager-Jahren, ein alter Mann kurz vor seinem Tod und überhaupt in ausweglosen Umständen ein mehrfacher Sterbender. 
Ein menschliches Chamäleon, das sich zwar stets verändert, sich aber nicht zwangsläufig dem gegebenen Umfeld anpasst, sondern als asozialer Störfaktor im Rampenlicht steht. Der Mensch legt eben viele Gesichter an den Alltag, möchte sich fügen, sich anpassen, wie Moravias Konformist, doch am schwersten fällt es ihm, er selbst zu bleiben und daran scheitert er schließlich, bei Carax noch im übertriebenen Sinne.
Es heißt, der Regisseur hätte in all den Jahren Ruhepause Ideen zu mehreren Filmen angehäuft, sie nun aber alle in "Holy Motors" vereint, was man dem Film auch ansieht, der mit der permanenten Verwandlung seiner Hauptfigur gleichzeitig mehrere Anekdoten und Genres mixt. Es reicht von der Groteske, über Sci-Fi, bis hin zum Melodrama und Musical, ist aber vor allem ein durchgehendes Spiel mit Identitäten.
Der Film rennt dabei ständig gegen die Wand, durchbricht sie auch, lässt sich nicht bändigen oder gefangen halten. Leos Carax jongliert einbeinig an einer sehr steilen Klippe, extremer in der Narration geht es im Kino kaum noch, bloß die Grenze zum überambitionierten Kunstfilm, dem man alles verzeihen muss, ist hauchdünn. Doch noch ist alles gut.

SO LANGE ES MENSCHEN GIBT

Douglas Sirk (USA, 1959)
Und weiter geht's mit Douglas Sirk. "So lange es Menschen gibt" war sein letzter Film, vielleicht auch gut so, weil er sich trotz seiner erzählerischen Qualität zum Ende hin in ein sentimentales Dauerleiden der ersten Klasse hineingaloppiert. Rassismus ist hier großgeschrieben, der Stoff wurde schon in den 30er Jahren verfilmt, wo die Zuschauer eigentlich noch viel eher von ihren Sitzen aufspringen mussten.
Die verwitwete Schauspielerin Lora (Lana Turner) hat eine afroamerikanische Haushälterin bzw. Kindermädchen bei sich zu Hause aufgenommen, deren Tochter Sarah Jane (Susan Kohner... hat bisschen was von Natalie Wood) kaum etwas von der dunklen Hautfarbe ihrer Mutter geerbt hat.
Sirk verfolgt damit zwei Handlungsstränge, die sich aber ständig überkreuzen und voneinander abhängig sind: das ist zum einen Loras Traum vom großen Schauspiel-Erfolg, für den sie ihre Mitmenschen oft vernachlässigt und zum anderen die Mutter/Tochter-Bezeihung zwischen der schwarzen Annie und ihrer weißen Tochter, die sich für ihre Mutter schämt und ihre familiären Wurzeln von Kindesbeinen an versucht zu verheimlichen, um von der Gesellschaft nicht ausgestoßen zu werden. Das Drama spitzt sich zu, als die junge Sarah Jane schließlich das Haus verlässt, um ein neues Leben anzufangen, bei dem ihr ihre Mutter nicht ständig in die Quere kommen soll, die sich daraufhin in Kummer und Verzweiflung stürzt und schließlich am gebrochenen Herzen stirbt.Douglas Sirk muss ein wahrer Meister gewesen sein, dass er eine solche prätentiöse Grundthematik dennoch gekonnt meistert, man fühlt sich fast wie in einem Kazan-Film, die Vorzeige-50er werden demaskiert, die Figuren zerren aneinander, Tränen fließen, Sarah Jane wird sogar in einer schäbigen Seitenstraße von ihrem Freund zusammengeschlagen, als er erfährt, sie hätte eine schwarze Mutter.
Alles schön und gut, bloß wieso um Himmels Willen muss der Film mit einer pompösen Beerdigung der afroamerikanischen Haushälterin abgeschlossen werden, deren Leichnam im großen Stil von einer Kutsche durch überfüllte Hauptstraßen gezogen wird? Es soll ihr eigener Wunsch zu Lebzeiten gewesen sein, wirkt aber eher wie auf Bestellung von Douglas Sirk konstruiert. Der Rassismus hat wieder mal ein Opfer gefordert, die undankbare Tochter kommt dann plötzlich tränenüberströmt aus einer Bildecke und stürzt sich in dramatischer Pose auf den davonfahrenden Sarg. Mehr Melodrama geht kaum noch. Douglas Sirk, King of Pathos. Damit schloss er den Kreis seines Gesamtwerks, in dem er uns mit triefenden Taschentüchern dastehen lässt; aber so etwas muss man auch erst mal hinbekommen.

19. September 2012

WENN DER WIND WEHT

Jimmy T. Murakami (Großbritannien, 1986
Der alte Klassiker, auch wieder so ein Wühltisch-Film und es ist auch kein Wunder, wenn man die DVD einlegt und mit einer elend schlechter deutschen Tonspur konfrontiert wird; unglaublich wie so was überhaupt auf den Markt gebracht werden kann.
England liegt zwischen den Fronten des kalten Krieges, die Rentner Hilda und Jim führen in ihrem idyllischen Häuschen ein ruhiges Leben, sie kümmert sich um den Haushalt, er beobachtet die politische Lage der Welt, beide reden darüber, beide spekulieren auf senil-naive Weise über einen möglichen Einsatz einer Atombombe, Jim analysiert immer mehr die Protect & Survive-Broschüren, baut schließlich an die Wand des Wohnzimmers einen irrsinnigen Schutzraum aus alten Blech-Teilen. Die Bombe geht natürlich auch hoch, doch Hilda denkt weniger an die tödliche Gefahr, als an die Unordnung, die in der Wohnung veranstaltet wird, an schmutzige Gardinen und an die Wäsche, die draußen zum Trocknen hängt.
Murakami legt hier so etwas wie einen Lehrfilm hin, stopft die Geschichte mit Atombomben-Klischees aus, versammelt alles auf einem Haufen, bis ein engagiertes Werk herauskommt. Ein ernstes Thema kollidiert mit einem dafür ungewöhnlichen Genre, der Film mischt aber Gezeichnetes mit Real-Film-Hintergründen und Realfilm-Sequenzen, das passt alles nicht immer zusammen, durchbricht eher den schönen Zeichenstil, aber vielleicht soll es das auch, vielleicht dringt nur so die Realität zu den beiden vor (und zu uns!), denn es soll nichts verniedlicht werden. Und Jim verwechselt auch gerne öfters die Ruskis mit den alten Nazis, für ihn bleibt Gefahr eben Gefahr, der Film spekuliert aber auf einen 3. Weltkrieg hin, man darf nichts unterschätzen, es kann noch ganz schlimm kommen und das tut es auch. Das pessimistische Szenario bietet leider keinen Ausweg, was aber auch etwas enttäuschend ist, weil die Sackgasse am Ende zu keinem überraschenden Höhepunkt hinführt. David Bowies Titelsong wirkt auch etwas deplatziert und doch ist es insgesamt ein wirklich sehenswerter, gut animierter bzw. gut beobachteter Film mit zwei "Hauptdarstellern" von seltener Anmut und Harmonie.

18. September 2012

DIE GROßE ILLUSION

Jean Renoir (Frankreich, 1937)
All die Truffaut'schen Lobeshymnen auf Jean Renoir, vor dem er sein Leben lang auf die Knie fiel.. da muss ja was dahinterstecken, aber selbst wenn man einen Kopfstand macht, ändert das nichts an der Tatsache, dass "Die große Illusion" alt geworden ist. Am beeindruckendsten ist sicherlich der Fakt, in welcher brenzligen Zeit der Film entstanden ist. Der 1. Weltkrieg wird noch thematisiert, während die Nazis schon längst ihre Fahnen schwingen und der nächste Krieg an die Tür klopft. Jean Gabin als französischer Flieger, Pierre Fresnay als Offizier und Marcel Dalio mit jüdischer Herkunft kommt auch noch hinzu, alle stecken sie im Kriegsgefangenenlager, graben einen Tunnel, werden aber ins nächste Lager verlegt, bevor sie nur einen Fuß in den unterirdischen Gang setzen können und landen schließlich in einer mittelalterlichen, deutschen Festung, wo der Kommandant von Rauffenstein (Erich von Stroheim) das Sagen hat.
Gabin und Dalio können aber doch noch aus dem einschüchternden Massivbau entwischen, weil Fresnay mit einer Flöte auf den Zinnen hüpfend die Deutschen ablenken kann. Er bezahlt mit seinem Tod, aber verhilft seinen Kumpanen zur Flucht.
An dieser Stelle schafft es der Film mit den beiden Entflohenen endlich auch dem Militärdrill zu entfliehen, der den Großteil des Filmes überschattet und ihn so kühl und gefühlsarm erscheinen lässt. Die zwei Franzosen finden schließlich Unterschlupf bei einer deutschen Bäuerin (Dita Parlo), deren Ehemann im Krieg gefallen ist. Eine gemütliche Geborgenheit empfängt sie, gibt ihnen zu Essen und drückt ihnen ein Glas Milch in die Hand.Der politisch-militärische Kuddelmuddel muss nun Platz schaffen für echte Gefühle eines auftauenden Jean Gabins, der selbstverständlich ein Auge auf die Witwe geworfen hat. Das deutsch-französische Verhältnis wird von der menschlichen Seite angefasst (bzw. durchgeschüttelt). Die beiden Männer kümmern sich auch um die kleine Tochter der Frau und helfen artig beim Haushalt mit. Gabin, mit hochgekrempelten Ärmeln, macht sich einen Spaß daraus, dass er im Stall eine deutsche Kuh versorgen darf.
Diese krasse Zweiteilung lässt ein bisschen Sonnenlicht in den Film herein scheinen, aber der Bogen bleibt in beide Richtungen überspannt: Zuerst der kühle Drill, die blitzblanken Uniformen und die steifen Posen, dann die warme Stube vor Postkartenlandschaft, die einzige und natürlich hübsche Frau und der (für bäuerliche Verhältnisse) reich gedeckte Essenstisch. Hier prallen nicht nur zwei Welten, sondern auch zwei Filme aufeinander.
Immerhin hatte Renoir seherische Fähigkeit  bei der Wahl des Filmtitels bewiesen; denn wenn die zwei Männer im Schlussbild in die weite Landschaft hinauslaufen, bleibt der Begriff Freiheit doch nur eine Illusion. Jeder weiß, was danach kommen sollte.