27. Dezember 2012

DER OBRIST UND DIE TÄNZERIN

John Malkovich (USA, Spanien, 2002)
John Malkovich kann man in der Regel kaum etwas vorwerfen, wenn aber jemand vorübergehend den Beruf vom Schauspieler zum Regisseur wechselt, blinken erstmal alle Alarmleuchten auf. Ein kreatives Desaster ist vorprogrammiert, denn warum sollte eine Regiarbeit von John Malkovich unbedingt gut sein? Auf der anderen Seite: warum aber auch nicht, wenn ein begabter Schauspieler dahinter steckt, der vielen Regie-Kollegen über die Schulter schauen durfte. Also lässt man sich darauf ein und muss es in dem Fall auch nicht bereuen.
Malkovich lehnt sich auch recht weit aus dem Fenster, was die Wahl des Stoffes angeht, denn mit der Geschichte um den südamerikanischen Terroristen Ezequiel Durán, die an das Leben des Führers einer peruanischen Terrororganisation angelehnt ist, wagt er sich gleich aus voller Nähe an ein knochenhartes Problemkino heran, das darüber hinaus auch noch zeitlose Züge trägt, wenn man sich die Mühe machen will, ihn auf aktuelle Tagesthemen zu projizieren.
Javier Bardem ist hier der Ermittler, der eine Menge aufzuräumen hat, früher mal ein erfolgreicher Anwalt, der sich beruflich umorientiert hat. Die Suche nach Ezequiel, der das Land durch Terroranschläge in Angst und Schrecken versetzt, ist ein weitgehend hoffnungsloser Kampf, eine abstrakte Irrfahrt und eine Suche nach einem gesichtslosen Phantom, der nicht zu fassen ist und doch allgegenwärtig ist. Was er lediglich hinterlässt sind mehrere Opfer und symbolische Andenken in Form von aufgeknöpften Hunde-Kadavern, an deren Hälsen ideologische Parolen hängen, über die sich das Volk und die Polizei den Kopf zerbrechen dürfen.  Ezequiel ist ein unsichtbarer Kämpfer, der verhasste Gegner während einer Theatervorführung als ahnungslose Zuschauer auf die Bühne lockt und von ausgewechselten Schauspielern kaltblütig ermordet lässt. Seine Vorgehensweise im ganzen Land gleicht einer makabren Inszenierung, deren Ziele und Forderungen nicht definiert werden, was die Polizei ratlos in der Ecke stehen lässt und schließlich das Kriegsrecht ausgerufen werden muss.Javier Bardem war deswegen vielleicht nie so nutzlos wie in diesem Film, und doch ist er die zentrale Heldenfigur und Hoffnungsträger, weil er irgendwann der ganzen Sache schließlich auf die Schliche kommen muss. Zu Hause hat er eine nervige, realitätsferne Ehefrau, deren Welt nur aus Beauty-Artikeln zu bestehen scheint. Er verfällt also Yolanda (Laura Morante), der Ballettlehrerin seiner kleinen Tochter, die nicht nur dafür sorgt, dass sein Privatleben und seine Gefühlswelt völlig entgleist, sondern die in der Gesamthandlung eine wichtige Rolle einnimmt.
Der Film hält sein stimmiges Gleichgewicht; er schlägt große Wellen vom Thriller, zum Drama und der sich durchschlängenden Liebesgeschichte, die so nicht sein darf, die sich zaghaft und in leisen Schritten entwickelt, um auf eine Kehrtwende hinauszulaufen.
Es ist eine permanente Suche nach jemandem, den man zur Verantwortung ziehen will, der aber erst mal ein großes Mysterium bleibt und sogar von Einheimischen als ein körperloses Etwas beschrieben wird, das sich wie ein böser Geist überall einnistet.
Der Feind lauert überall und hat viele Komplizen. Die Menschen im Film sind dem hilflos ausgeliefert und wir nicht viel weniger; die Bedrohung schwappt über und gelangt bis an unsere gemütlichen Fernsehsessel. Doch nicht nur das Thema macht hier den Film aus, sondern der Film selbst, dessen Geschichte mit großer Geschicklichkeit vorangetrieben wird.

20. Dezember 2012

ALEXIS SORBAS

Michael Cacoyannis (Griechenland, UK, USA, 1964)
Griechenlands Vorzeigefilm, Aushängeschild und wahrscheinlich größter Klassiker. Letztens den Roman aufgestöbert; was Cacoyannis daraus gemacht hat, ist vielleicht noch besser, zumindest filmgeschichtlich von großer Bedeutung.
Alan Bates (hier als der junge Schriftsteller Basil) erbt ein Kohlebergwerk auf Kreta und begegnet am Hafen dem Namensgeber dieser Geschichte, Alexis Sorbas, auch bekannt als Anthony Quinn; Figur und Darsteller gehen nahtlos ineinander über, denn Quinn spielt nicht nur Sorbas, sondern IST auch Sorbas. Selbst wenn man den Wälzer von Kazantzakis aufschlägt, hat man sofort die griechische Schauspielerlegende vor Augen; sich als Leser ein anderes Gesicht vorzustellen bleibt eine kreative Meisterleistung.
Von nun an sind Basil und Sorbas unzertrennlich. Als jungem, unerfahrenen Grünschnabel, bleibt Basil nichts anderes übrig als Sorbas' aufdringliche Art hinzunehmen und ihn als Arbeiter für das Bergwerk zu engagieren.
Basil ist der reservierte Jungspund im Spießerlook, der körperliche Arbeit kaum gewohnt ist, der allem misstrauisch und mit Vorsicht entgegentritt. Sorbas ist der grobgeschnitzte Riese, der sein Herz nach außen trägt, der das Leben kennt und am Schopfe packt, der immer geradeheraus ist und kein Blatt vor den Mund nimmt. Er ist der Wahnsinnige, Prophet und Philosoph in einem. Dank des Aufpralls dieser zweier Gegensätze wächst und gedeiht die Geschichte und beweist uns, wie sich die beiden Gegenpole doch stets zu ergänzen wissen.
Die Kohlemiene ist zunächst ein dunkles Loch voller Staub und Geheimnisse, sie auf Vordermann zu bringen und eine Seilbahnkonstruktion für den Baumtransport zu errichten, ist der Auslöser für die Handlung. Die beiden Männer lernen einander besser kennen und Sorbas erklärt Basil wie man lebt, gar wie man liebt, zumindest versucht er es, in dem er seinen Freund mit der Witwe Surmelina (Irene Papas) zusammenbringen will, dem mysteriös-schönen, beinahe wortlosen Charakter dieses Filmes. Sorbas selbst hat sich mit Madame Hortense zusammengetan, einer alternden, französischen Offizierskurtisane, die jedoch viel stürmischer den Inhalt ihres Herzens vor ihm ausschüttet, als es Sorbas lieb wäre.
Das besondere an dem Plot ist, dass die beiden Liebesgeschichten stets parallel aber zaghaft nebeneinander herlaufen, jedoch am Ende unerfüllt bleiben. Der Zuschauer kann nur zuversichtlich nach dem klassischen Näherkommen lechzen, doch der romantische Zauber bleibt uns verwehrt, weil der jungen Witwe mitten auf dem Dorfplatz die Kehle durchgeschnitten wird (als monströser Racheakt der Dörfler... was für eine Filmszene!) und die alte Französin krank in Sorbas Armen stirbt. Alles geht in die Brüche, selbst die Seilbahn an der Kohlemiene, eine unnützige Fehlkonstruktion, doch Sorbas und Basil überstehen am Ende all die Not und herben Schicksalsschläge und tanzen gemeinsam den berühmten Sirtaki-Tanz am Strand.
Und man fragt sich weiterhin, warum Griechenland mit seiner uralten Kulturtradition, trotz dieses großen Klassikers als Filmland ein weitgehend unbetretenes Territorium bleibt. Viel zu selten dringt von dort etwas zu uns hindurch, dabei kann sich ein Film wie Cacoyannis' Sorbas-Verfilmung praktisch unauffällig in den italienischen Neorealismo einreihen. Rossellini und de Sica sind da nicht weit entfernt; die Themen sind ähnlich rauh, die s/w-Bilder von ähnlicher archaischer Schönheit, und sowohl die großen Italiener als auch Cacoyannis, kleben ihren Figuren (bzw. den Menschen) direkt an den Fersen.

5. Dezember 2012

AUGEN OHNE GESICHT

Georges Franju (Frankreich, Italien, 1960)
Zeit für ein klassisches Schauermärchen mit Mary Shelley-Tendenz, gepaart mit Stilsicherheit und französischer Coolness; da ist man bei Georges Franju am besten aufgehoben. "Augen ohne Gesicht" nennt sich sein vielleicht bekanntestes Werk, das damals für reichlich Ekel und Panik unter den Zuschauern sorgte und das, obwohl er zuvor der Schere zum Opfer gefallen ist. Diese Schandtat der Zensur ist lange her und wir dürfen den Film inzwischen wieder in (fast) voller Länge genießen, zumindest die langwierige Operations-Szene in all ihrer B-Movie-Aufdringlichkeit über uns ergehen lassen.
Aber alles nacheinander. Zuerst muss man sich mit der Eigenwilligkeit des Chirurgen Dr. Génessier (Pierre Brasseur) vertraut machen, der in einer abgelegenen Villa seine nach einem Autounfall entstellte Tochter Christine (Edith Scob) von der Außenwelt versteckt, deren malträtiertes Gesicht (das wir als Zuschauer nie zu sehen bekommen) er mit Hauttransplantationen retten möchte. Da der Eingriff jedoch öfters misslingt (das verpflanzte Gewebe wird nach gewisser Zeit wieder abgestoßen), werden immer wieder junge Studentinnen von seiner Assistentin (Alida Vali) ins Haus gelockt, um als Hautspender auf dem Labortisch zu landen. Christine muss also viel über sich ergehen lassen. Sie lebt völlig isoliert hinter einer Maske, in einem Haus mit abgehängten Spiegeln, um von ihrem tragischen Aussehen verschont zu bleiben, oder zumindest halbwegs von dem schweren Schicksal abgelenkt zu werden.
Georges Franju kennt man einerseits als Regisseur von diesem Grusel-Hirngespinst, aber vor allem auch als Mitbegründer der französischen Cinémathèque. Man würde denken, dass auf diese Weise zwei vollkommen gegensätzliche Welten aufeinanderprallen, doch trotz der morbiden Grundthematik legt der Regisseur viel Wert auf eine filigran-verspielte Optik und stilvolle Charaktere. Natürlich im Mittelpunkt die markante Hauptfigur, die in ihrem detailverliebten, Geheimzimmer ihr Unglück permanent am Kissen ausweint.
In diesem Film kollidiert also vieles zusammen, was auf den ersten Blick kaum verwandt zu sein scheint: Das coole 60er-Jahre Godard-Paris auf Folterkammer-Ästhetik und viktorianische Villa, Kriminalgeschichte auf Old-School-Body-Horror.
Und dass der Film bis heute Spuren hinterlässt, merkt man spätestens, wenn man Leos Carax' "Holy Motors" sieht, in dem Edith Scob erneut mit einer Maske ihr Gesicht verdecken darf. Almodovar war ja mit "Die Haut, in der ich wohne" auch nicht weit entfernt; der Einfluss von Georges Franju reicht also bis in die heutige Zeit und das muss schon etwas heißen.