23. September 2012

HOLY MOTORS

Leos Carax (Frankreich, 2012)
Georges Franjus "Augen ohne Gesicht" scheint für verschiedene Filmemacher eine wahre Inspirationsquelle zu sein. Tornatores "Die Unbekannte" hatte Bezüge zu dem alten Schauermärchen, Almodovars "Die Haut, in der ich wohne" ist auch nicht weit entfernt und Leos Carax baut in seinem neuen Film schließlich das endgültige Zitat ein, weil er die Chauffeurin des Protagonisten mit Édith Scob besetzt, die schon in Franjus Film die Titelrolle spiele, in "Holy Motors" darf sie die Maske erneut aufsetzen.
Aber das ist eigentlich fast nur eine Nebensache im neuen Carax-Film, der schon mit "Liebenden von Pont-Neuf" seinen Hauptdarsteller Denis Lavant auf die linke Seite stülpte, hier aber alle Grenzen und Regeln des Kinos mit Leichtigkeit durchbricht.
Lavant, der Mensch aus Gummi, ist deutlich gealtert seit der letzten Zusammenarbeit mit Carax, aber genau so brauchen wir ihn auch, den vom Leben Gezeichneten und Gereiften, der nach einem merkwürdigen Traum morgens aufsteht, die Familie verabschiedet und mit Aktenkoffer seinem Job nachgeht. Lavant bzw. Oscar wird von Céline (Édith Scob) in einer Limousine abgeholt, der Irrsinn des Films beginnt, Oscar holt ständig Akten heraus, auf denen ihm seine Aufträge mitgeteilt werden, das riesige Auto wird zu einer Art Kostümverleih, er muss von einem Pariser Ort zum nächsten hetzen, stets im Zeitplan bleiben, sich von Job zu Job umziehen, verkleiden, schminken, eine neue Identität annehmen. Jedes Mal verlässt er als neue Figur das "Taxi", ob als alte Bettlerin, als Performer in einen Motion-Capture-Anzug, oder rennt mit roter Mähne durch den Pariser Friedhof, frisst Blumen von den Gräbern, beißt anderen die Finger ab, entführt ein Model (Eva Mendez), ist Auftragskiller, Vater einer Tochter in Teenager-Jahren, ein alter Mann kurz vor seinem Tod und überhaupt in ausweglosen Umständen ein mehrfacher Sterbender. 
Ein menschliches Chamäleon, das sich zwar stets verändert, sich aber nicht zwangsläufig dem gegebenen Umfeld anpasst, sondern als asozialer Störfaktor im Rampenlicht steht. Der Mensch legt eben viele Gesichter an den Alltag, möchte sich fügen, sich anpassen, wie Moravias Konformist, doch am schwersten fällt es ihm, er selbst zu bleiben und daran scheitert er schließlich, bei Carax noch im übertriebenen Sinne.
Es heißt, der Regisseur hätte in all den Jahren Ruhepause Ideen zu mehreren Filmen angehäuft, sie nun aber alle in "Holy Motors" vereint, was man dem Film auch ansieht, der mit der permanenten Verwandlung seiner Hauptfigur gleichzeitig mehrere Anekdoten und Genres mixt. Es reicht von der Groteske, über Sci-Fi, bis hin zum Melodrama und Musical, ist aber vor allem ein durchgehendes Spiel mit Identitäten.
Der Film rennt dabei ständig gegen die Wand, durchbricht sie auch, lässt sich nicht bändigen oder gefangen halten. Leos Carax jongliert einbeinig an einer sehr steilen Klippe, extremer in der Narration geht es im Kino kaum noch, bloß die Grenze zum überambitionierten Kunstfilm, dem man alles verzeihen muss, ist hauchdünn. Doch noch ist alles gut.

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