8. September 2014

1900

Bernardo Bertolucci (Italien, Frankreich, Deutschland, 1976)
Pieter Bruegel der Ältere malte einst „Die Heuernte“ und „Die Kornernte“, jene Gemälde, die am ersichtlichsten von allen seinen Bauern-Bildern die Arbeit und die darauf folgende Erschöpfung porträtieren. Sein bewusster Einsatz der dominierenden, gelben Farbe des schnittreifen Getreides und somit ein unmittelbarer Einblick in die Welt und Überlebensquelle dieser Leute. Und plötzlich tun sich Parallelen auf, denn mit dieser visuellen Ausführung und der gesamten Thematik seiner Bilder erinnert er an Bernardo Bertoluccis filmisches Gemälde.
1900 erblicken unsere beiden Protagonisten in der italienischen Region Emilia Romana, das Licht der Welt. Olmo (später Gérard Depardieu), das Kind von Landarbeitern, und Alfredo (später Robert De Niro), der Sohn der Herrschaft auf dem Landgut.
Zwei ahnungslose Jungen, von den stolzen Familienoberhäuptern, fest umklammert in den Händen gehalten. Zwei kleine Nachkommen für zwei verschiedene Lebenswege vorbestimmt, die sich dank einer tiefen Freundschaft unentwegt kreuzen werden. Und das ist das schöne an dem Film: diese ungewöhnliche Freundschaft, die von der ungleichen Abstammung und der stets wiederkehrenden Entfremdung beider Freunde, dennoch niemals zerrissen werden kann.
Kulissenartig folgen Bilder von abgenutzten Bauerngesichtern, die in ihren tristen Stuben sitzen, die auf dem Feld arbeiten, sich allen Wetterverhältnissen und den Launen der Gutsbesitzer aussetzen. Die armseligen Lebensverhältnisse und im Gegenzug die Bräuche, Sitten und Feste; wie eine Ablenkung von der Ausbeutung durch die dekadenten Landbesitzer und dem Fanatismus der Faschisten. Die Tragik dieser Welt: die Gepflogenheiten und Bräuche, deren Sinn und Zweck im Kampf ums Überleben entfachen. Die Melancholie der Erzählung wird in dem ockerfarbenen Gewand des Films um so malerischer. Eine gute Beispielszene dafür ist Olmos Froschfang. Wie er sich die lebenden Frösche an seinen Hut bindet und ihre kleinen Glieder hilflos vor seinen Augen zappeln. Ein schockierendes Bild und doch nichts als nackter Überlebensdrang, oder die Thematisierung existenzieller Grundbedürfnisse. Gefühle von Ekel und Empörung sind hier fehl am Platz. Später wird ein Schwein geschlachtet. Eine detaillierte Darstellung des sauberen Schnittes durch den leblosen Körper, im Gegenzug die sinnlose Entenjagd der gemästeten Landherren. Die relative Bedeutung von Schönheit und Abscheu wird hinterfragt.
Und der Regisseur wedelt hier kräftig mit der roten Flagge. Der Drang, dem Arbeiter in seine Vierwände, in seinen Teller, aber vor allem in seinen Kopf zu blicken, den Klassenkampf zu feiern und die tragenden politischen Kräfte dieser Zeit zu porträtieren. Bertolucci kämpft seine eigene Schlacht, vielleicht zu beharrlich, eingleisig, gar parteiisch. Hier könnte man an ihm herumnörgeln.
Die einzig wahren Gründe für den bevorstehenden Untergang lassen auch nicht lange auf sich warten: Während die beiden Freunde zu jungen Männern heranwachsen, breitet sich der italienische Faschismus im ganzen Land aus. Die symbolische Ermordung einer Katze durch den faschistischen Gutsverwalter Attila (ein grandios animalischer Donald Sutherland), die auf ihre bestialische Art den Faschismus zum Kampf reizen soll, ist der Anfang für diese grausame Phase Italiens und eröffnet eine Reihe von Morden der unmenschlichsten Art.
Bemerkenswert ist es wie es Bertolucci dennoch gelingt, diese inhaltliche Schwere, diese historische Tragik und diese politisch gelenkten Schicksale durch einen Handlungsstrang zusammenzuhalten, der für einen aufregenden, poetischen und liebevollen Film sorgt.
Es ist das Einfangen von bestimmten Situationen auf der Basis von alltäglichen Begebenheiten und der traditionellen Offensichtlichkeit. Wie Alfredos Ehefrau Ada es bei ihrem Besuch in Olmos Haus selbst hervorhebt, als sie die gemütliche Atmosphäre in seinem Heim beschreibt, die ihr natürlich nur aufgefallen ist, weil es in ihrem eigenen Leben daran mangelt.
Bertolucci schleppt uns einen schweren, großen Felsen an, lässt ihn wie ein Monument vor unsere Füße fallen. Hier ist die Lebensgeschichte der italienischen Landarbeiter verinnerlicht, die Thematisierung der Klassenunterschiede anhand einer ungleichen Freundschaft. Ein filmisches Grundmuster, welches das zentrale Thema mit vielen Verzweigungen füllt, die uns trotz ihrer Vielschichtigkeit und ihrem scheinbaren Ablenkungsdrang keineswegs störend vorkommen; ganz im Gegenteil; sie ergänzen die Story, gehen sogar darüber hinaus und bereichern dieses so eigenartig wirkende Universum.
Die vom Sonnenlicht ausgefressene Landschaft, mit ihrer spezifischen Farbigkeit. Die van Gogh’schen Felder und Heuhaufen. Die idyllischen Bauernhöfe und Landhäuser mit ihren großen Plätzen. Der alte Mann, der seinen Stuhl in der Landschaft positioniert, um ein Liedchen auf dem Akkordeon anzustimmen. Der bucklige Narr im Getreidefeld - eine Art Allegorie zur Rigoletto-Figur - der Giuseppe Verdis Tod verkündet. Das Volksfest im Wald mit den Flötenlauten zwischen dem Bäumen. Ein Grammophon im Gras, das die feinen Leute in Anzügen während ihrer ungewohnten Pose als Landarbeiter begleitet. Das spätere Stadtleben, die Erfahrungen mit Huren und die Drogen. Das theatralisch wirkenden Volkstribunal. Die kurzweilige, weihnachtliche Stimmung und vor allem dieses unaufhaltsame Zeitvergehen, das einerseits durch Orte, Häuser oder gar Dachböden Kindheitserinnerungen erweckt, anderseits aber auch vieles vergessen lässt, was vielleicht damals wichtig war, wenn es nicht gerade mit Absicht verdrängt wird.
Ein Gemälde und kein Film. Mit Pinsel und Farbe erschaffen worden, nicht aber mit der uns vertrauten Kamera gefilmt. So viel ist sicher.

24. März 2014

DIE ROTE HERBERGE

Claude Autant-Lara  (Frankreich, 1951) 
Claude Autant-Lara erzählt hier nach einer wahren Begebenheit von der berühmt-berüchtigten roten Herberge, in der zwischen 1807 und 1833 über 50 Reisende von den Wirtsleuten erst angelockt, anschließend ermordet, ausgeraubt und auf dem umliegenden Gelände vergraben wurden.
Fernandel ist dabei, wieder als Mönch, nicht weit weg von seinem Don Camillo. Der Mann Gottes, der mit seinen Händen herumfuchtelt und dank seiner großen Gesten zur unüberwindbaren Ehrfurchtsperson wird. Die Wirtin hält es nicht lange aus, wird von Gewissensbissen geplagt, denn all die sündige Jahre stauen sich an. Eine Herberge ist keine Kirche, so beichtet sie ihm die vielen Morde mit einem provisorischen Röstkastaniengitter vorm Gesicht.  Fernandel kann da seine großen Augen voller Staunen bloß noch weiter aufsperren und muss sich entscheiden, wie er die anderen Wirtshaus-Besucher vom sicheren Tod bewahren kann, ohne seine Schweigepflicht anzutasten.
Bei Autant-Lara wird dieser teuflische Vorfall noch erheblich bunter und verspielter; da soll man sich von dem ewigen Schwarzweiß nicht täuschen lassen. Er inszeniert die Begebenheiten mit einer überdosierten und reichlich verstaubten Komik als kammerspielartige Wirtshaus-Groteske. Von einer beißenden Moral oder belehrender Konsequenz werden die Charaktere dabei auch nicht verschont. Hier fließt kein Blut, der Schnee ist weiß und unbefleckt und die vergrabenen Leichen im Garten bleiben wo sie sind: unter der Erde. In zeitlicher Not wurde das letzte Mordopfer sogar im Inneren eines Schneemanns versteckt. Und ein Schneemann hält nicht ewig. Schon gar nicht in dieser teuflischen Geschichte, so winterlich gemütlichen sie auch erscheinen mag.

23. Februar 2014

AMERICAN HUSTLE

David O. Russell  (USA, 2013)
Um "American Hustle" fällt es sehr schwer, einen Bogen zu machen; so eine breitgefächerte Werbekampagne erleben sonst nur die herrschsüchtigen Blockbuster. Er schafft es sogar, entlegene Kleinstadt-Bahnhöfe mit Filmplakaten zu verzieren.
Im Mittelpunkt das Gaunerpärchen Irving Rosenfeld (Christian Bale) und Sydney Prosser (Amy Adams), die sich wie Aasgeier auf ihre Opfer stürzen, welche sich in finanziellen Notlagen befinden und mit betrügerischen Kredits die Geldbeutel leergeräumt bekommen. Die beiden Partner werden jedoch schnell überführt und das Blatt wendet sich, bzw. FBI-Agenten Richie DiMaso (Bradley Cooper) zwingt die beiden, einen unausweichlichen Deal einzugehen, bei dem hohe Tiere aus der Politik wegen Bestechlichkeit eingesackt werden sollen.
David O. Russell erzählt in Form eines übergroßen, vielschichtigen Film-Mosaiks, das gekonnt mit Musik jener Zeit ergänzt wird. Es ist ein Konstrukt aus bunter Hektik, stilistischer Prahlerei, maßloser Coolheit & Überzeichnung der 70er Ära; ein komplexes Geflecht aus Maskerade, Egozentrik, Habgier und kriminellen Seitenwegen, aber auch ein Film, der sich immer wieder von seinem Tumult zu erholen weiß, wenn er sich seinen Figuren und ihren persönlichen Dramen widmet. Selbst dann brodelt es in ihm wie in einem Vulkan und irgendwann bricht er dann auch aus, explodiert, rüttelt an seinen Charakteren, die wie theatralisch vermummt erscheinen, weil Russel jemand ist, der seine Darsteller entgegen ihrem festgefahrenen Image besetzt. Deswegen Christian Bale mit fettem Bierbauch und angeklebten Haaren und deswegen ein Robert De Niro als schmieriger Mafioso, bei dem man zweimal hinschauen muss; eine Nebenrolle mit Cameo-Neigung.
Und wo wir schon bei De Niro sind: David O. Russel scheint sich für sein jüngstes Werk gerne bei Scorsese bedient zu haben, erinnert vor allem sehr an Martys 90er-Jahre-Gangster-Epen wie "Goodfellas" und "Casino", weil man bei "American Hustle" ebenfalls mit einem Off-Erzähler zugedröhnt wird, dass einem schwindlig wird, aber ohne dass man kotzen müsste, weil er nicht bloß die Bilder stützt, sondern die Erzählstruktur erweitert.
Trotz seines aufgeblasenen Erscheinungsbildes (denn zum hochnäsigen Film-Giganten wurde er ja hochgehievt), bleibt "American Hustle" ein wirklich guter Streifen mit Köpfchen und eine respektvolle Verbeugung vorm Gangster-Genre im Ensemble-Film-Format.

BLAU IST EINE WARME FARBE

Abdellatif Kechiche  (Frankreich, 2013)
Abdellatif Kechiche heißt der Regisseur, sein Film dafür im Original "La vie d’Adèle", man braucht sich dieses Mal also nicht den Kopf zu zerbrechen, was hinter "Blau ist eine warme Farbe" alles symbolisch stecken könnte. Wir haben hier dennoch einen deutschen Verleihtitel, der ausnahmsweise sogar individueller als der ursprüngliche ist.
Die Geschichte ist schnell erzählt bzw. zusammengefasst, bloß Kechiche braucht dafür satte drei Stunden Spielzeit; mit Sicherheit einer der gedehntesten Filme der letzten Dekaden. Denn im Grunde ist es so: Adèle (Adèle Exarchopoulos), 17 Jahre alt, Schülerin, macht eine schlechte bzw. nicht erfüllende Erfahrungen mit einem Jungen, doch bevor es so weitergeht wie bei Ozons "Jung und schön", wo sich die Heldin für gekaufte Liebe anbietet, fühlt sich Adèle zu der etwas älteren Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) hingezogen. Zu diesem Anlass stellt der Regisseur seine Kamera auch gerne mehrmals im Schlafzimmer auf. Damit wird nicht nur ein filmisch selten gezeigter, gleichgeschlechtlicher Liebesakt beinahe akribisch analysiert, sondern einige der wohl intensivsten Liebesszenen festgehalten.
Bekanntschaft, Affäre, Beziehung, Enttäuschung, Seitensprung, Eifersucht, Eskalation, Abschluss, getrennter Weg, Versöhnung. Alle Phasen zum Thema Liebe, nur dass sich der Regisseur hier für alle Etappen reichlich Zeit nimmt. Liebesdrama im Zeitlupentempo; eine detailbesessene Erzählweise, die dem Film sicherlich zu seinem Erfolg verhalf. Ob die Gefühlsebene dann doch überstrapaziert wird, darüber könnte man sich unter Umständen Gedanken machen. Tränen fließen hier literweise, verweinte Gesichter und verrotzte Nasen beherrschen die Leinwand; die erste Liebe ist eben eine ernste Sache. Ein solches psychologisches Gefühls-Epos muss man dennoch erstmal hinbekommen.

DIE LETZTEN TAGE DER EMMA BLANK

Alex van Warmerdam  (Niederlande, 2009)
Vorab: Der Mann, der früher unverwechselbare Filme wie "Noorderlinger" drehte und letztens in "Ober" diesen eigenwilligen Stil zu verlieren drohte, konnte sich seine Handschrift in "Emma Blank" wieder zurückholen. Oder kurz gesagt: Endlich wieder etwas Fieses vom fiesen van Warmerdam.
Dieses Mal reduziert er sein Setting auf ein abgelegenes Landhaus. Im Making Of sieht man, wie das Bauwerk aus dem Nichts für den Film errichtet und später wieder eingerissen wurde. Ein Handlungsort als künstlich aufgebaute Illusion, die später in der Realität spurlos beseitigt wird. Auch die Niederlande können eine Traumfabrik sein.
Emma Blank ist krank, soll bald sterben und wird von ihren Bediensteten umsorgt, die bedingungslos ihren Befehlen folgen, egal ob Köchin, Hausmädchen, Diener oder Knecht; alle fügen sich ihrer ehrfürchtigen Autorität und gehen ihren oft absurden Forderungen nach. Sie lassen sich sogar oft erniedrigen, wie etwa Theo (Alex van Warmerdam höchstpersönlich!), der rund um die Uhr in die Rolle eines Hundes schlüpfen muss. Das kann in seiner Absurdität witzig sein, wird aber irgendwann plump-vulgär, wenn man den Regisseur das x-te menschliche Beine bespringen sieht. Jedenfalls gehorcht erstmal jeder seiner Herrin und macht jeden Irrsinn mit. Man steht ja schließlich im Testament und möchte sein Erbe nicht gefährden. Doch wenn genug ist, ist genug: Man lässt sich nicht mehr alles gefallen und die Verhältnisse im Haus ändern sich schlagartig bis zum bitterbösen Ausklang.
Alex van Warmerdam zeigt, wie weit der habgierige Mensch geht, bevor doch noch der gesunde Verstand einsetzt, weil man plötzlich an seine eigene Würde denkt. Und der Regisseur hat immer noch das Talent, seine schwarzhumorigen, gar lakonischen Figuren nicht bis zur endgültigen Charikatur zu überzeichnen. Sein Kino ist nicht mehr so frisch und unverbraucht wie vor Jahren, aber er bleibt trotzdem der Meister der wortkargen Groteske.

12. Februar 2014

DIE WAND

Julian Pölsler  (Österreich, Deutschland, 2012)
Martina Gedeck im Kampf mit der Natur, mit der Zivilisation und natürlich mit sich selbst. Sie reist mit einem Paar zu einer entlegenen Jagdhütte in den österreichischen Bergen. Das Paar macht sich noch am gleichen Abend auf den Weg ins Dorf und kommt nie wieder zurück und Gedeck muss am nächsten Tag feststellen, dass ihr Territorium, in dem sie sich frei bewegen kann, durch eine unsichtbare Wand begrenzt ist. An jedem Ort, wo Menschen, bzw. die Zivilisation als Rettung in greifbarer Nähe sind, wird ihr Weg durch die durchsichtige Mauer versperrt, alles Menschliche dahinter wirkt wie zeitlich festgefroren, bleibt entrückt und unerreichbar. Unsere Heldin hat zunächst nur ihren Hund als Begleiter, mit der Zeit kann sie noch weitere (Haus)Tiere als Kameraden dazugewinnen.
Pölslers Verfilmung des Marlen Haushofer Romans hinterlässt zwar eine ähnliche beklemmende Leere wie das Buch, aber bei der filmischen Variante wird man noch unruhiger, weil man es nicht glauben möchte, wie Mensch sich mit seiner Situation einfach abfindet, ohne etwas an seiner ausweglosen Lage ändern zu wollen. Die Landschaftsaufnahmen sind großartig, von einer melancholischen, alles überragenden Gigantomanie, wie man sie ähnlich bei Werner Herzog finden kann, dennoch sehnt man sich nach einem Ausbruchsversuch, wenigstens nach einem geschmissenen Stein, der an der unsichtbaren Wand abprallen würde, oder nach der Bemühung, den genauen Verlauf und Umfang der Mauer nachforschen zu wollen. Doch dafür scheint es schon zu spät zu sein; Gedecks Figur ist schon längst abgestumpft, die Isolation macht aus ihr eine Jägerin mit bäuerlichem Selbsterhaltungstrieb.
Pölsler springt zeitlich hin und her, lässt Gedeck in der Jetztzeit tagebuchartige Aufzeichnungen führen, mit denen die unterschiedlichen Zeitebenen begleitet werden; Seelenleben aus dem Off, der sicherste Weg. Frau Gedeck ist gut und der Film im Grunde auch. Bedrückend, einengend und dämmrig trüb. Bloß vermisst man am Ende doch noch irgendwas; keine Erklärungen oder Antworten, aber doch etwas raffinierteres als restlos vollgeschriebene Zettel, die den Film langsam, sanft und sicher wieder ausklingen lassen.

VERTRAG MIT MEINEM KILLER

Aki Kaurismäki  (Finnland, Großbritannien, 1990)
Sogar jemand wie Kaurismäki kann sich von Jules Verne inspirieren lassen. Es handelt sich in dem Fall jedoch nicht um die abenteuerlustigen Fabeln des Sci-Fi-Urgroßvaters, sondern um seinen etwas weniger geläufigen Roman "Die Leiden eines Chinesen in China", der dem Finnen zu seiner filmischen Geschichte verhalf.
Der ehemalige Truffaut-Zögling, Jean-Pierre Léaud spielt einen Franzosen in England, der im Londoner Wasserwerk angestellt ist und bereits am Anfang des Films entlassen wird. Der Regisseur gibt ihm auch kaum die Gelegenheit, sich mit seinem Schicksal auf irgendeine Weise abzufinden, sondern treibt ihn sofort in die vollkommene Ausweglosigkeit. Man sieht ihn schnell mit einer Schlinge um den Hals oder mit dem Kopf im Backofen. Die Selbstmordversuche misslingen jedoch, was bei Kaurismäki gewohnt tragisch-komisch-lakonisch ist und Léaud bzw. Boulanger schafft anschließend etwas vollkommen Absurdes, indem er sich selbst einen Auftragskiller aufhalst. Von nun an wird er zu einem panisch Verfolgten, der in seiner eigenen Wohnung auf den bestellten Mörder wartet.
Eine Kehrtwende erlebt die Geschichte dann doch noch, als Boulanger die Blumenverkäuferin Margaret (etwa ein Chaplin-Zitat?) kennenlernt und sein Leben plötzlich doch wieder einen Sinn ergibt. Leider ist es da schon zu spät, den Vertrag mit dem Killer rückgängig zu machen.
Das klingt nach einer Hitchcock-Charikatur und ist auch ähnlich inszeniert, wie die Filme des Suspense-Erfinders. Überall erwartet man den bösen Trenchcoat-Träger in den nächtlichen Straßen; man weiß was passieren soll, bloß nicht wann und ob es wirklich passieren wird. London bleibt weitgehend bis zur Unkenntlichkeit maskiert, selbst bei längeren Kamerafahrten über der Skyline scheint Kaurismäki ausgelutschte, offensichtliche Hinweise zu vermeiden, die eine sofortige Zuordnung des Ortes vereinfachen würden. London ist fremd und unnahbar, weckt keine Gefühle von touristischer Vertrautheit und malerischer Gemütlichkeit, um standhaft allen Reiseführer-Klischees auszuweichen. Gerade durch die Entfremdung der Hauptfigur, ist es vielleicht Kaurismäkis kühlster Film. Und entgegen seiner früheren Nouvelle Vague-Geschwätzigkeit, kann Jean-Pierre Léaud im Alter endlich auch mal wunderbar wortkarg bleiben.

6. Februar 2014

EIN KIND WARTET

John Cassavetes  (USA, 1963)
Verblüffend ist das ja schon: Stanley Kramer wird als Produzent in einem John Cassavetes-Film aufgelistet. Die große Gena Rowlands ist auch dabei. Es kann also nichts mehr schief gehen. Dabei ist "Ein Kind wartet" bloß eine kleine Fingerübung für den talentierten John Cassavetes, der später mit gigantischen Filmen wie "Eine Frau unter Einfluss" ganze menschliche Seelen nach außen stülpte.
Hier begibt er sich mit seiner Geschichte sogar auf einen bis dahin filmisch relativ unbenutzten Seitenpfad und siedelt das Geschehen in einer psychiatrischen Kinderklinik an. Judy Garland tritt auf, als junge Lehrerin, die ihrem Leben einen neuen Sinn geben will und sich um psychisch kranke Kinder kümmern möchte. Burt Lancaster ist der ehrfürchtige Psychologe, der alles und jeden überschattet und der Garlands mangelnden Fachkenntnissen erstmal skeptisch entgegentritt. Eine dominante Figur, die Garlands grünschnabelig-sensiblen Art zuerst wenig Platz zum Entfalten übrig lässt.
Charakter-Regisseur, Cassavetes belässt es natürlich nicht bei einer gesichtslosen Masse an Kindern, sondern fokussiert gleich den zwölfjährigen Reuben. Sieht man Bruce Ritchey in dieser bemerkenswerten Rolle, glaubt man, sein Gesicht aus tausend Filmen zu kennen. „Ein Kind wartet“ gehört aber zu den zwei einzigen Filmen, in denen er jemals mitgespielt hat, was scheinbar ausreichte, um als Darsteller eine deutliche Spur zu hinterlassen. Er ist hier ein introvertierter Junge, der sich gegen jede autoritäre Aufforderung gegenstämmt und jeden Menschen mit einem Blick aus scheuem Misstrauen mustert. Er verweigert die Mitarbeit, wenn die Kinder in der Werkstatt etwas bauen sollen; lieber stößt er aus Bauklötzen errichtete Bauwerke wieder um. Destruktion und Ablehnung statt Mitarbeit und Fügsamkeit. Die anderen Kinder werden zunehmend zur Kulisse für Reubens komplexem Charakter und Judy Garland gewinnt zwar sein Zutrauen, hat aber mit dem verschlossenen Jungen alle Hände voll zu tun, genauso wie der bestimmende Lancaster.
Reuben ist eben das verzweifelte Kind, das wartet... auf seine Eltern, die ihn einst aufgegeben haben und niemals in der Klinik besuchen. In Rückblenden lernen wir die beiden kennen, Gena Rowlands spielt seine überforderte Mutter und sie muss bereits in diesem Film nicht all zu viel tun, um alle zu überragen.
Ein sehr guter Problemfilm, über eine Thematik, vor der man damals gern die Augen abgewendet hat, aber trotzdem weit weniger dokumentarisch als sein Ruf. Dafür ist er noch zu sehr auf melodramatische Weise in seiner Hollywood-Konstruktion gefangen und deswegen weniger schonungslos und radikal als Cassavetes' späteren Filme.

DAS LEBEN DER BOHÈME

Aki Kaurismäki  (Frankreich, Italien, Schweden, Finnland, 1992)
Kaurismäki hat seit je her das große Talent, seine Filme zeitlos erscheinen zu lassen, ob in den 80ern, 90ern oder in den letzten Jahren entstanden; er stellt seine eigene Handschrift bewusst in den Vordergrund und verwischt damit jegliche sich aufdrängenden Äußerlichkeiten, die an bestimmte Jahrzehnte klischeehaft geknöpft sind.
Wenn er in diesem Film von der Bohème erzählt und sich dabei von Henri Murgers Roman „Scènes de la vie de Bohème” von 1851 beeinflussen lässt, schnappt sein Film tatsächlich den Zeitgeist jener Pariser-Periode auf. Dass er sich in der Jetztzeit abspielt, fällt dann beinahe nicht mehr auf. Hier prallt das zwanzigste Jahrhundert gegen seine zugestaubten Helden; Maler, Musiker, Schriftsteller... Geister der Vergangenheit, in einer modernen, dennoch archaisch wirkenden Welt gefangen.
Wie so oft stellt Kaurismäki seine Figuren vor die Frage, wovon man die nächste Miete bezahlen soll, doch dieses Mal trifft es keine Durchschnittsbürger ohne Eigenschaften, sondern die kreativen Köpfen und der Film wird anstandslos malerischer, gar poetischer, weil der Regisseur auch noch nach alten französischen Meistern greift: Louis Malle sitzt im Café und der Ausflug ins Grüne erinnert an Jean Renoirs idyllischen Realismus. Dann die Szene des Diebstahls: Nahaufnahmen von Händen, die in fremde Taschen hineingreifen; schon sind wir bei Robert Bresson. Und wenn das Holz zum Heizen ausgeht, steckt man eben die Gedichte seiner Jugend in die Flammen des Ofens; Carl Spitzwegs "Der arme Poet" in filmisch vollendeter Form.
Eine tragisch-komische Ode ans (Künstler)Leben, Freundschaft und Liebe und vielleicht Kaurismäkis witzigster Film, weil er seinen Figuren eine intellektuell-überhöhte Ausdrucksweise in den Mund legt und damit die Härte ihres Daseins ironisiert.

2. Februar 2014

UND ERLÖSE UNS NICHT VON DEM BÖSEN

Joël Séria  (Frankreich, 1971)
Mal wieder etwas aus der Teufelsküche, dieses Mal aus einer französischen. Der Chefkoch könnte hier genauso gut Walerian Borowczyk heißen, es ist aber Joël Séria, der hier Anfang der 70er einen Skandal auslöste und dafür sorgte, dass sein eigenes Werk schnell wieder von den Leinwänden verschwand.
Die zentrale Frage, die man sich bei Sérias Film stellt, ist wie alt wohl seine beiden Darstellerinnen zu dem Zeitpunkt waren, wo sie doch zwei 14jährige Klosterschülerinnen verkörpern sollen, die sich alles andere als gesittet benehmen. Sie widmen ihr Dasein lieber dem Teufel, provozieren lüsternen Blicke, oder lesen unter der Bettdecke Lautréamont und Baudelaire. Wie "schön" auch mal vor den Maldoror-Gesängen eine filmische Verbeugung zu erleben. Die Sommerferien werden dann auch anders genutzt, als es sich für Mädchen ihres Alters ziemen würde; lieber tötet man Vögel, stiftet Brände, macht merkwürdige, nächtliche Rituale, spielt den Dörfler üble Streiche und verdreht den männlichen Bewohnern den Kopf durch den Reiz der Verführung, nur um im entscheidenden Moment doch noch den Rückzug zu wagen und den Mann geschlagen und entblößt dastehen zu lassen.
Ein beunruhigender und raffinierter Film, weil er oft auf eine französische Art subtil, poetisch und verspielt erscheint, gleichwohl Tabubrüche provoziert, Blasphemie beschwört und mit seiner Finalszene schließlich endgültig schockiert. Denn nach all den Missetaten, durch die die beiden Mädels schnurgerade auf eine Sackgasse zusteuern, denkt man viel eher an all die möglichen Konsequenzen bzw. einen herben Rückschlag, als an einen selbstinszenierten Schlussstrich mit bebendem Nachhall.