28. Januar 2013

PICKPOCKET

Robert Bresson (Frankreich, 1959)
Robert Bresson muss man hin und wieder aus dem Keller holen, und eigentlich gehört er auch gar nicht dahin, denn er zählt wirklich zu den größten des französischen Kinos, auch wenn er gerne etwas vergessen wird, oder aber immer viel zu sehr im großen Schatten der Nouvelle Vague stand, auch wenn er mit seinem einprägsamen Stil diese Bewegung wie kaum ein anderer Landsmann beeinflusste.
Michel (Martin LaSalle) vertritt hier die schmuddelig-poetische Coolness im Anzug, den ewig traurig dreinblickenden Studententypen, der am liebsten herumlungert, sich seine Hände nicht so gern bei lästigen Jobs dreckig macht, sondern lieber seine langen Finger heimlich in die Hosen- und Jackentaschen von Fremden reinsteckt, um ihre Brieftaschen zu entwenden.
Große Inspiration für ihn ist ein Buch über den legendären Taschendieb George Barrington, seine persönliche Bibel und Nachttisch-Literatur, die ihn in besonders brenzligen Situationen beinahe zu verraten droht. Für uns Zuschauer ist Michel ein Künstler oder Zirkusartist, der in seiner mickrigen Wohnung Fingerübungen macht, um sein Taschendieb-Handwerk zu perfektionieren. Für Paris, seine Freunde und die Polizei ist er ein ausgetüftelter, gesichtsloser Dieb, der nicht zu fassen ist, bevor seine Finger eines Tages doch noch nach der falschen Brieftasche greifen.
Bresson ist das Auge des Kinos. Man schalte den Ton weg und versteht die Geschichten immer noch, weil er so präzise und geradlinig in Bilder zu erzählen versteht. Und Bresson nutzt diese visuelle Präzision auch in diesem Film, um sich an sein Thema so gut wie möglich zu nähern. Aus der Kunst des Taschendiebstahl macht er eine dokumentarisch anmutende Choreografie aus tanzenden Händen, die perfekt einstudiert wahre Wunder vollbringen, wenn sie heimlich nach Geldbeuteln, Schmuck und Uhren von ahnungslosen Passanten greifen.

17. Januar 2013

PEE-WEE'S IRRE ABENTEUER

Tim Burton (USA, 1985)
Bis man sich an jemanden wie Paul Reubens alias Pee-wee Herman (oder anders herum) erstmal gewöhnt hat, können so einige Minuten Spielzeit vergehen, bevor man diese nervtötende Figur endlich akzeptiert hat, mit der Reubens bereits davor in einer TV-Serie auf sich aufmerksam gemacht hatte. Pee-wee ist nämlich so etwas wie eine Mischung aus Jacques Tati, Pierre Étaix, Roberto Benigni und Mr. Bean. Vielleicht könnte man sich noch so etwas wie die clown-hafte Seite von Chaplin einreden, muss man aber nicht. Was nicht bedeuten soll, dass man bei Berücksichtigung solcher Weggefährten mit dieser Figur seinen endgültigen Frieden schließen kann und sie leichter zu ertragen ist. Diesem kindlichen Chaos auf zwei Beinen hilft aber schließlich die Entwicklung der Geschichte, die immer wieder zu überraschen weiß und diesen hyperaktiven Charakter immer sympathischer gestaltet.
Zumindest beim Drehbuch hat Paul Reubens ganze Arbeit geleistet: der Plot lebt von der irrsinnigen Suche Pee-wees nach seinem über alles geliebtem, leider gestohlenen Fahrrad und von seinen Begegnungen mit lauter skurrilen Gestalten und den entlegensten Orten Amerikas, so dass Pee-wee tatsächlich unterschiedliche Seiten an sich zeigen kann.
Und beinahe vergessen zu erwähnen, dass kein anderer hinter diesem Rummelplatz-Schabernack steckt als der junge Tim Burton, noch lange vor seinem festgefahrenen Schauermärchen-Stil, aber dennoch mit einer Handschrift, die geradewegs in diese Richtung hinzuführen droht.

15. Januar 2013

PERSONA

Ingmar Bergman (Schweden, 1966)
Der Winter weht momentan eh schon eisig kalt durch jeden Fensterspalt, da macht ein Bergman-Film kaum noch etwas aus. Nach all der Überflutung an schlechten, mittelmäßigen, aber auch guten Filmen, muss man hin und wieder nach den großen Meistern zurückgreifen, damit sie einen stets daran erinnern, wo das Herz und Verstand des Kinos sei je her beherbergt werden.
Mit einem Film wie "Persona" betritt man trotz mehrerer gesehener guter Filme eine völlig andere Welt; die Messlatte wird plötzlich angehoben, so viel Gesehenes wirkt beinahe lächerlich.
An den Inhalt erinnern wir uns noch: zuerst gibt es die berühmte Aneinanderreihung unterschiedlicher Einzelbilder und Aufnahmen; ein Experiment als Prolog. Für Bergman selbst ist das ein persönliches Gedicht, über das wir uns seit Jahrzehnten den Kopf zerbrechen dürfen.
Nach der Einleitung (natürlich mit Bezügen und Verweisen zur Gesamtgeschichte) folgt die eigentliche Handlung um die Krankenschwester Alma (Bibi Andersson) und ihre Patientin Elisabet Vogler (Liv Ullmann), eine Bühnenschauspielerin, die während einer Aufführung beschließt nicht mehr zu sprechen. Dann die Annäherungsversuche der Krankenschwester an das Innere ihrer Patientin und schließlich der Versuch einer Therapie am entlegenen Sommerhaus am Meer, wo die beiden Frauen auf sich allein gestellt sind. Elisabet schweigt und hört zu, Alma redet unentwegt über ihr eigenes Leben, bis sie sich in der Patientin selbst wiederfindet; Selbstreflektion ist hier ganz großgeschrieben. Alma schenkt der stummen Frau immer mehr Vertrauen, nur um festzustellen, dass sich diese in Briefen über sie lustig macht. Der Racheakt folgt in Form von bewusst ausgelegten Glasscherben, in die Elisabet hineintritt. Irgendwann eskaliert das Geschehen und führt zu der Schlüsselszene, in der Alma die Schauspielerin mit einem Topf kochendem Wasser bedroht und diese als Reflex zum ersten Mal den Mund aufmacht und um Verschonung bittet.
Und irgendwann verschmelzen diese beiden prägnanten Gesichter von Ullmann und Andersson zu einer einzigen Form; Sven Nykvist, der Bergman'sche Hauskameramann hat wieder beide Hände voll zu tun. Und wir noch viel mehr, weil Antworten bei Bergman unter Verschluss gehalten werden. Der Epilog bäumt sich dann auch noch mal auf, in ähnlicher Form wie die Anfangsbilder, wenn der Sohn das langsam erlöschende Bild seiner Mutter berührt.

14. Januar 2013

DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN

Jacques Audiard (Frankreich, Belgien, 2012)
Jacques Audiard ist verantwortlich für diesen wirklich guten Film über die zwei körperlichen und seelischen Krüppel, die stets aneinander zerren, sich aber zu ergänzen wissen. Stéphanie (Marion Cotillard, schon wieder großartig!) war Orcawal-Trainerin, verliert bei einem schweren Arbeitsunfall ihre Beine und wird in eine völlig neue Lebenslage katapultiert.
Ali (Matthias Schoenaerts) ist der dick gepanzerte Muskelberg, der sich neben seinem Job im Sicherheitsdienst, ein paar Scheine bei illegalen Box-Kämpfen dazuverdient, lieber also die Fäuste sprechen lässt und somit öfters seinen kleinen Sohn vernachlässigt und bei Frauen-Themen vordergründig seinen Trieben folgt als einem tieferen Gefühl. Meint man zumindest erstmal: Dass es auch anders kommt und er Seiten von sich zeigen kann, in denen er aufzutauen scheint, wird man dann auch feststellen dürfen.
Sein Hauptaugenmerk legt der Film auf  Stéphanis dramatisches Schicksal, ihren persönlichen Umgang damit, ihre neue Lebenssituation, ihre anfängliche neue, finstere Welt aus zugehängten Fenstern und wie sie schließlich mit Alis Hilfe immer mehr Licht in diese Welt hereinlässt, so dass der Film selbst wieder in anderen Farben erstrahlen kann.
Doch um Frieden zu finden müssen auf beiden Seiten noch eine Menge Blut und Tränen fließen, der Film sorgt dafür, dass es einem nicht zu leicht gemacht wird und er stellt lieber noch ein paar grundlegende Fragen auf seinem langwierigen Weg. Über das Vater/Sohn-Verhältnis etwa, das öfters in Vergessenheit zu geraten scheint, nur um zum Ende hin eine zentrale Bedeutung einzunehmen.
Realismus gar Existentialismus, Charakterkino kann man es auch nennen; all das landet nur noch selten auf den großen Leinwänden, meint man. Bei Audiards neustem filmischen Streich denkt man aber wieder an diese Begriffe und man denkt auch an Leos Carax und seinen schönen Pont-Neuf-Film über das Clochard-Pärchen, nicht nur am Rande der Seine, sondern vor allem am Rande ihrer Selbst, die doch oder gerade deswegen zueinander finden.
Alis (Matthias Schoenaerts) Verhältnis zu und Stéphanie (Marion Cotillard) gleicht auch einer stürmischen Schlacht, denn was sich liebt, das neckt sich (um es milde auszudrücken!), und bis bei Ali Worte der Zuneigung fallen, dauert es auch ein bisschen länger, bzw. die Welt um ihn muss schon endgültig zusammenfallen, bevor er  Stéphanie sagen kann, was er wirklich empfindet. Und der irrsinnige Vergleich zu Carax stellt sich schon wieder, weil auch Audiard den expressionistischen Film-Pinsel schwingt, schnörkellos, direkt, ohne Kitsch und prätentiöse Wortgefechte und aufdringliche Voice Over-Gedankenwiedergaben, sondern lieber alles auf die Bilder und vor allem seine beiden Hauptdarsteller setzt.
Als Stéphanie zum allerersten Mal gezeigt wird, liegt sie nach einer Auseinandersetzung im Gedränge vor einer Disco, die Kamera zuerst auf ihren Beinen (die sie später verliert) und erst dann ihr blutendes Gesicht. Das ist nur eins der kleinen optisch-narrativen Spielchen und eine der unglamurösesten Einführungen einer Filmfigur. Davon lebt der Film; von dem Versuch, sich an dem Gewöhnlichen vorbeizuschlängeln.

10. Januar 2013

TAKING OFF

Miloš Forman (USA, 1971)
Miloš Forman verließ zur damaligen Zeit die Tschechoslowakei und setze mit „Taking Off“ den ersten Fuß auf den amerikanischen Boden. Was dabei mit diesem Film ins Rollen gebracht wurde, ist beinahe schon beängstigend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass jemand, der bis dahin in die amerikanische Kultur und Lebensweise nur kurz hineinschnuppern konnte, bereits mit seiner ersten Produktion auf dem neuen Kontinent, einen dermaßen reifen und entblößenden Blick auf die USA werfen konnte; vermutlich entblößender als es viele Amerikaner selbst jemals geschafft haben. Oder aber man kann einen solchen Blick gerade als Ausländer/Neubürger viel besser ausarbeiten, weil noch genug Distanz vorhanden ist.
Forman hat zuvor in seiner Heimat in dem Film "Der Wettbewerb" ein Gesangs-Casting zum Mittelpunkt der Handlung auserwählt; in "Taking Off" umschließt er seine Geschichte ebenso durch eine Vielzahl an Szenen eines Talent-Castings, bei denen die unterschiedlichsten Charaktere ihre musikalischen Fähigkeiten zum Besten geben (u.a. zu sehen: die sehr junge Kathy Bates mit ihrem eigenen Song). Vielleicht kann man diese Themenverwandtschaft beider Filme als Bindeglied oder gar Vergleich beider Länder betrachten.
Im "Taking Off"-Wettbewerb lernen wir erstmal die 15-jährige Jeannie kennen, die sich jedoch entscheidenden Moment, nicht mehr traut zu singen. Ein Casting überhaupt zu besuchen ist ihre eigene Entscheidung gewesen. Die Unwissenheit der Eltern, wo sich die Tochter herumtreiben könnte, ist der eigentliche Auslöser für die Handlung, oder für ein Drama, das eigentlich keins ist, sondern eher eine hysterische Überdramatisierung der Eltern. Der Generationskonflikt schleicht sich hinein, bzw. der klägliche Versuch einer Kommunikation zweier Welten: Die gutbürgerlichen Spießer-Eltern versuchen ihre von großen Träumen geleiteten Hippie-Kinder zu verstehen, bzw. tun so als würden sie es versuchen.
Und Forman treibt es zum Ende hin auf die Spitze, weil er die unschuldige Jugend in Schutz nimmt, wohingegen die verständnislose Elterngeneration parodiert gar dämonisiert wird und in einer irrsinnigen Strip-Poker-Runder bekifft und betrunken alle Hüllen fallen lässt und damit alle Tabus bricht. Die junge Jeannie ertappt die Spieler gerade beim Höhepunkt ihres unkontrollierten Treibens.
Das ist der amerikanische Albtraum und einer der Filme, die durch die Thematisierung beider Welten gerade diese am überzeugendsten auf den Kopf stellt und mit festgefahrenen Denkrichtungen und Rollenverteilungen aufräumt. Und das war ja erst der Startschuss für Forman in seiner neuen Heimat. Direkt danach folgte Nicholson und das Kuckucksnest. Damit ist alles gesagt, zumindest angedeutet.

CELEBRATION DAY

Dick Carruthers (Großbritannien, 2012)
Auch dieser (Musik)Film sollte nicht unerwähnt bleiben: eines der schwersten Geschütze der 70er-Jahre wurde 2007 in London für einen einzigen Gig reanimiert. Man mag sich die Augen reiben und wird danach immer noch feststellen, dass es wahr ist: Led Zeppelin betraten da tatsächlich noch einmal die Bühne, um vor dem Ende 2006 verstorbenen Atlantic-Records-Gründer Ahmet Ertegun musikalisch den letzten Hut zu ziehen. 
John Bonham durfte leider nur durchs Schlüsselloch der Himmelspforte hinabschauen, aber immerhin saß nun sein Sohn Jason an den Fellen und trommelte nicht viel schlechter als sein in den 80ern verstorbener Vater. Die restlichen 3 Gründungsmitglieder stehen natürlich alle auf der Bühne und nicht mal auf wackeligen Beinen, trotz ihres Alters und der turbulenten Lebensweise, die ihnen seit Jahrzehnten im Nacken sitzen muss. Page & Plant sind sich ja schon in den 90ern über den Weg gelaufen, trugen schon damals die Zep-Klassiker aus dem Grabe zu den Lebenden, konnten aber sogar einige neue Sachen aus dem Ärmel schütteln, die nicht uninteressant waren.
2007 konnte der Zeppelin wieder aufsteigen, dann wieder mit Paul Jones am Bass und Klavier. Die Songs kratzen, donnern, winseln und jammern, "For your Life" wurde sogar zum allerersten mal live umgesetzt, und es funktioniert immer noch alles. Das einzige Instrument, das mittlerweile Abnutzungsspuren aufweist sind Plants Stimmbänder, deswegen lässt er manches weg, was er sich früher noch getraut hätte, oder interpretiert es anders, aber das macht ja nichts, er ist allgegenwärtig wie eh und je. Der alte Zoso-Page, mittlerweile im natürlichen Look mit weißem Haar, entlockt seinen Gitarren immer noch mit gleichen Wucht die altbewährten Klänge, auch wenn er sie in all den Jahren hier und dort gekonnt auszuschmücken und zu variieren lernte, oder aber bewusst reduzierte.
Letztendlich ist das eine wirklich gute Show, die sich vor nichts verstecken muss und über Kritiker-Nörgeleien lächelnd hinwegsehen kann. Nur bitte keine unnötigen Reunion-Pläne/Diskussionen mehr!

8. Januar 2013

ULEE'S GOLD

Victor Nuñez (USA, 1997)
Victor Nuñez also. Und schon wieder könnte man die Frage stellen: wer ist das überhaupt? Zumindest jemand, der den alten Peter Fonda wieder auf die Beine stellt, wobei der Film auch schon einige Jahre auf dem Buckel hat, aber trotz dessen gehörte Fonda schon zu diesem Zeitpunkt  mit seinem Schwesterherz Jane zum Urgestein der Branche.
Mag man also "Ulee's Gold" sehen wie man will (bei den damaligen Festivals kam er wohl gut an), sein Hauptverdienst bleibt immer noch, sich auf würdige Art vor Peter Fonda zu verbeugen, so dass man sich nicht schon wieder auf Clint Eastwood einlassen muss, den obligatorischen Mann für die Rolle des wiederbelebten Senioren-Helden, der noch einmal den Colt ziehen darf, und das kann man jetzt auch ruhig zweideutig interpretieren.Der Witwer Ulee (eben Peter Fonda) lebt als Bienenzüchter in Florida, zusammen mit seinen beiden Enkelinnen, deren Vater wegen einem Raubüberfall im Gefängnis sitzt und die drogenabhängige Mutter, Hellen (Christine Dunford) im Verlauf der Geschichte erst einmal wiedergefunden und entgiftet werden muss, wobei Ulee von seiner Nachbarin, der Krankenschwester Connie (Patricia Richardson) liebevoll unterstützt wird. Ulee leidet zudem an Rückenproblemen, was ihm die Arbeit an den Bienenstöcken zusätzlich erschwert. Und als wären das nicht schon genug Strapazen, meldet sich plötzlich auch noch der inhaftierte Sohnemann und bittet seinen Vater um Hilfe, da seine Frau Hellen von den damaligen Überfall-Komplizen gefangen wird. Offene Rechnungen stehen noch aus; die Beute, zu deren Versteck Ulee die beiden Gauner hinführen soll. Der Vietnam-Veteran Ulee mobilisiert sich also zum passiven Kämpfer und sorgenvollen Beschützer seiner Familie. 
Aus einem sanften Familienmelodrama wird ein fast reißerischer Thriller, beinahe mit Hitchcock-Flair, alles um am Ende die ganze Familie wieder zu vereinen. Der Film kommt dabei auf leisen Sohlen seinem Ziel entgegen, explodiert hier und da in kleinen Akzenten, aber schwirrt eher konstant in seiner Narration wie die Bienen über ihrem Honig, und die ewig summende, niemals aufdringliche Musik von Charles Engstrom schließt diesen ausgewogenen Rahmen.

7. Januar 2013

DIE ROMANTISCHE ENGLÄNDERIN

Joseph Losey (Großbritannien, Frankreich, 1975)
Joseph Loseys Filmographie scheint relativ umfassend zu sein, ich dachte, ich würde mehr davon kennen, doch irgendwie ist es bisher nur sein Engländerin-Film, oder ich übersehe gerade seine größten Schlager und müsste vor Scham im Erdboden versinken. 
Der Film lief vor langer Zeit in einer Helmut Berger-Reihe, wo er auch auf keinen Fall fehlen darf, denn wo Berger sonst bei Visconti göttergleich aufs höchste Podium gehievt wird, kann er hier in Loseys Film all seine Eitelkeit und egozentrische Überheblichkeit fast schon wieder persiflieren. Die Rolle des Drogenkuriers und Gigolo Thomas ist ihm wie auf den Leib geschrieben, was in der entspannten Art dieser Figur oft zu wirklich komischen Momenten führt. 
Als Gegenstück dazu stellt der Regisseur den ewig kauzigen Michael Caine in gemütlicher Strickjacke aufs Schlachtfeld, hier in der Rolle des zynischen Schriftstellers Lewis Fielding, dessen gelangweilte Ehefrau (Glenda Jackson) in Baden-Baden auf den jungen, attraktiven Thomas trifft und das Beziehungsschlammassel beginnen darf. Der Schriftsteller steckt nämlich nicht nur in seinen Eheproblemen sondern auch noch in einem kreativen Loch und es kommt ihm gelegen, dass der junge Thomas schließlich das Ehepaar besuchen kommt und sich in deren Wohnung einnistet, mit dem Vorwand, er würde sich für Fieldings Schreibkunst begeistern, aber natürlich längst ein Auge auf dessen Ehefrau geworfen hat.
Der Film rüttelt an der bürgerlichen Fassade und macht das mit viel beißendem Humor, weil sich die drei grotesken Figuren immer wieder in die Quere kommen und in der Wohnung übereinander stolpern. Dazwischen hampeln auch noch der kleine Sohn und das Kindermädchen, die ebenso Berger verfällt.
Das Londoner Haus des Ehepaars lernt man schließlich auch immer besser kennen und darf es als eigenständigen Charakter betrachten, vor allem Fieldings eigenes Kämmerchen, in dem er an seinen Romanen tüftelt und auf dessen Wand mehrere Portrait-Aufnahmen seiner Ehefrau hängen, auf denen er sie noch einmal (oder endlich?) aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann.
Ob das wohl ein typischer Losey-Film ist, fragt man sich. Wenn ja, dann sollte man sich künftig auf die Suche nach seinem restlichen Werk machen.

6. Januar 2013

BEASTS OF THE SOUTHERN WILD

Benh Zeitlin (USA, 2012)
Mit dem immer häufigeren Einsatz von Handkameras sollte man scheinbar endlich Frieden schließen; man muss sie dulden, sie akzeptieren, sich auf sie einlassen. Die ewig wackeligen Bilder streben nach Realismus und dokumentarischer Nähe, das Ergebnis gipfelt aber oft im Manierismus und einer unnötigen Aufdringlichkeit technischer Stilmittel.
Benh Zeitlin ist ein völlig neuer Mann am filmischen Horizont und er beugt sich gleich mit aller Beharrlichkeit diesem visuellen Konzept. Die Kamera schwenkt, wackelt, zittert und zuckt in diesen ohnehin schon so optisch unruhigen Sümpfen Louisianas, bzw. dem Ort Bathtub, der aus Müll und Dreck zu bestehen scheint, wo die Einheimischen von der restlichen Welt abgeschnitten leben. Es ist zunächst nicht einfach, sich darauf einzulassen; glücklicherweise entweicht diese Hektik dem Film irgendwann, auch wenn er sich niemals vollständig davon erholen kann. 
Die 6jährige Hushpuppy ist unsere kleine Heldin, die ohne Mutter aufwächst, sondern bei ihrem Vater Wink, einem an einer ernsthaften Herzerkrankung leidenden Fischer, der seine Tochter stets bewusst mit der Härte des Lebens konfrontiert, da er sein Schicksal kennt und das kleine Mädchen fürs Überleben abhärten möchte. Doch das ist scheinbar noch zu wenig Drama, weil die Bewohner zusätzlich noch einen harten Kampf mit der aufkommenden Klimakatastrophe auszufechten haben, als bei einem Sturm die Sumpfsiedlungen überflutet werden und die meisten Behausungen in den Wassermassen verschwinden.
Hushpuppy und ihr Vater kämpfen weiter, gegen die Krankheit, den Hunger, die Lebensumstände, die nicht existente Mutter, gegen die längst ausgestorbenen Auerochsen (trick-technisch wunderbar umgesetzt!) und vor allem gegen die Tränen, die sich immer wieder in ihren Augen ansammeln. Man soll hart bleiben, niemals weinen, doch irgendwann kullern die Tränen doch noch.
Der Film durchlebt Verwüstungen von unterschiedlicher Form und Ausmaßen, er spült den Dreck von einer Seite zur anderen und nur Weniges wird von den ewigen Schlammschichten befreit. Ein Frieden kann dann doch noch im finalen, traditionellen Brauch vielleicht nicht geschlossen, aber wenigstens angedeutet werden.
Ein schwerer Südstaaten-Existentialismus, der sicherlich die Geister von Hurrikan Katrina wieder wachruft. Wie mag wohl das ursprüngliche Theaterstück dazu aussehen, auf dem Benh Zeitlins Film basiert?

SEARCHING FOR SUGAR MAN

Malik Bendjelloul (Schweden, Großbritannien, 2012)
Sixto Rodriguez steckt definitiv (und leider) immer noch in den musikalischen Nischen, wo er von einem großen Geheimnis umschlossen wird, weil seit Jahrzehnten so wenig Information über ihn durchsickert, was seine Persönlichkeit aber um so interessanter und mysteriöser erscheinen lässt. Seine beiden einzigen Alben "Cold Fact" und "Coming from Reality" lagerten schon immer wie Blei in den Plattenläden. Keiner interessierte sich jemals für den amerikanischen Singer/Songwriter, und das obwohl diese simplen und doch originellen Songs in ihrer Einfachheit und Ehrlichkeit mitten ins Ohr & Herz treffen müssten. 
Was sie auch taten, nur eben in einer ganz anderen Ecke unseres Erdballs: in seiner Heimat blieb der Erfolg völlig aus, so dass sich Rodriguez schließlich als einfacher Arbeiter aus dem Geschäft zurückzog, ohne zu wissen, dass er gleichzeitig in Südafrika zu einer Musiklegende von Elvis-Größe heranwuchs und auf dem schwarzen Kontinent mehr Platten als die Rolling Stones verkaufte. Grund dafür müssen vor allem auch seine Texte sein, die seine Musik zur Hintergrundkulisse der Anti-Apartheidsbewegung verwandelten.
Von all dem bekam Rodriguez jedoch nichts mit und was nach seinem Rückzug geschehen ist, bleibt ein noch viel größeres Rätsel, dem zwei Fans schließlich auf die Spur kommen wollen, um irrsinnige Legenden aus dem Weg zu räumen, etwa wie sich der Künstler nach seinem letzten Konzert selbst in Brand gesteckt haben soll. Die Suche ist lang und beschwerlich, denn ein grundlegendes Problem stellt bereits der echte Name des Songwriters dar, der auf seiner ersten Platte bereits mit mehreren Namensvariationen den Fan verunsicherte.
Um sich auf den Film einzulassen muss man nicht mal Rodriguez Freund und Kenner sein, denn das Projekt gleicht eher einem Thriller oder Krimi, als einer gewöhnlichen Musikdokumentation, Rodriguez' Songs begleiten stets die vielfältige Bilderwelt aus Orten, Zeitzeugen, Fotocollagen und  kurzen Animationen. Dass daraus überhaupt ein Film entstehen konnte gleicht einem Wunder, wo doch so wenig Material vorhanden ist. Was die beiden Fans dann schließlich finden, muss leider verschwiegen werden, aber gewiss kann ein neues Rodriguez-Kapitel aufgeschlagen werden und hoffentlich schafft es der Film, Rodriguez' Musik hinauszutragen, wo sie bisher nicht angelangt ist. Und weit hat ja der Wind bisher nicht geweht. Malik Bendjelloul bringt mit seinem Werk hoffentlich was ins Rollen, aber es gibt noch jenseits dieser filmischen Verbeugung viel zu tun.

2. Januar 2013

PINA

Wim Wenders (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, 2011) 
Um mal zu vergleichen: Werner Herzogs bisheriges dokumentarisches Schaffen mag sicherlich umfangreicher und thematisch vielseitiger sein, als das von seinem Kollegen Wim Wenders, der auch weniger waghalsig vorgeht und sich eher darauf spezialisiert hat, andere Künstler filmisch ins Rampenlicht zu rücken, anstatt exzentrische Randfiguren und Problemthemen aus dem wahren Leben zu porträtieren. Doch trotz seiner Gemütlichkeit ist Wenders vor allem der Mann, dem es gelingt, auch ein paar ungewohnte Türen zu öffnen um dem klassischen Film- oder Wendersfan einen Blick auf andere Künstler und sogar Kunstformen zu ermöglichen.
Sein Film über die Choreographin und Tänzerin Pina Bausch durfte sich kürzlich dazugesellen. Eine völlig neue Welt eröffnet sich hier jedem Tanztheater-Banausen (also mir!), wenn man ansonsten einen großen Bogen um diese Kunstform gemacht hat. Pina starb leider 2009 und erlebte nicht mehr die Fertigstellung des Filmes; das fertige Werk ist natürlich ihr gewidmet und muss bis auf einige wenige Archiveinblendungen ohne sie auskommen. Die Meisterin schwebt aber wie ein wachender Geist über allen Darbietungen des Wuppertaler Tanztheaters.
Die vielen Darsteller lernen wir entweder in den unterschiedlichen, wundervoll inszenierten Stücken kennen, sowie durch die Vielzahl an eingeblendeten Gesichtern, die aus dem Off zu uns sprechen und ihre Lehrerin stets aufs höchste Podest zu stellen.
Pinas Kunst eignet sich natürlich vortrefflich für Wenders' Experiment, da der Einsatz von ungewöhnlichen Orten die Tänzer durchgehend aufs Neue herausfordert. Ob auf nassem Torf, draußen auf dem Wuppertaler Asphalt oder auf einer überschwemmten Bühne; jede Location wird mit Leichtigkeit überwunden und integriert sich von Anfang bis Ende in das jeweilige Stück.
Und so weit ist das alles auch gar nicht vom Filmmedium entfernt, schon gar nicht, wenn Wenders sich direkt ins Geschehen einmischt; nicht nur aus Entfernung mit dem passiven Blick eines Theaterbesuchers, sondern sich mit Kamera zwischen den Darstellern hindurchschlängelt. Aus dieser Nähe zum Geschehen werden aus einem ganzen Tanz-Ensemble einzelne Darsteller, Gesichter, Schauspieler, Individuen, Menschen.
Das charakteristische Stück „Café Müller“ hat ja sogar Pedro Almodóvar am Anfang seines „Sprich mit ihr“ eingebaut; da sieht man auch, wie gut sich Film und Tanz ergänzen können, wenn man beides gekonnt verbindet.
Eigentlich sollte man auch „Pina“ unbedingt mit dem Audiokommentar von Wenders schauen (muss noch unbedingt nachgeholt werden!), um noch mehr übers Pinas Arbeitsweise zu erfahren und wie sich der alte Düsseldorfer-Wim in dieser Welt zurechtfinden musste. Es soll ja alles andere als einfach für ihn gewesen sein, weil er lange nicht wusste wie man ein Tanztheater überhaupt filmen sollte. Seine Bedenken und Zweifel hatte er Pina Bausch gebeichtet, als das Projekt noch ganz am Anfang stand. Gelungen ist es ihm aber dennoch; vielleicht hat er das Pina zu verdanken, die ihre künstlerischen Mitarbeiter immer mit wenigen aber den richtigen Worten zu animieren wusste. 
Ein guter Film also, und trotz aller Ernsthaftigkeit gibt es sogar etwas zum Schmunzeln, wenn man bei der Suche nach Standfotos auf das Filmpremieren-Bild stößt, auf dem Wenders und Angela Merkel mit 3D-Brillen nebeneinander im Kino sitzen.