30. Oktober 2013

ORLACS HÄNDE

Robert Wiene  (Österreich, 1924)
Robert Wiene hat paar Jahre zuvor seinen Dr. Caligari auf die Menschheit losgelassen und in der Filmgeschichte tiefe Spuren eingeritzt. Als Namensgeber des Wiesbadener Programmkinos „Caligari“, ist er also auch mit Raritäten wie seinem "Orlacs Hände" herzlich willkommen, der wie jeder Stummfilm in diesem Kino, von Uwe Oberg am Klavier live begleitet wird. Oberg haut nicht nur in die Tasten, sondern entlockt zusätzlich auch den Klaviersaiten äußerst beunruhigende Töne, die diesen alt-expressionistischen Alptraum noch alptraumhafter erscheinen lassen. Robert Wienes Film wird von den typischen deutschen Schatten der Weimarer Republik eingehüllt; die Stadt biegt sich in ihren Schrägen und verliert sich in lochartigen Winkeln. Zwar nicht so herrlich kulissenhaft- artifiziell wie bei "Caligari", aber ähnlich schaurig-schön.
Conrad Veidt ist eins von Christopher Lees Vorbildern, es muss also was an ihm dran sein, und um so genauer beobachtet man seine ausdrucksvolle, gar affektierte Darstellung des Paul Orlac. Er ist Konzertpianist, der bei einem Unfall beide Hände verliert und bei einer Transplantation die Hände eines hingerichteten Mörders verpflanzt bekommt. Keine optimale Lebenslage also, und seine hilflosen Versuche, sich von den schrecklichen, neuen Händen zu "lösen", treiben ihn beinahe in den Wahnsinn. Es sind Fremdkörper, von deren krimineller Vergangenheit er sich distanzieren will, zumal er sich von den verbrecherischen Fingerabdrücken nicht mehr befreien kann.
Der Regisseur treibt die Spannung bis zum Ende auf die Spitze, wo sich alles ganz nach einem klassischen Krimi-Baukasten auflöst. Das Gesetz steht dem gefassten, wahren Schurken gegenüber; es wird stumm gequatscht, Beängstigendes enthüllt und in großen Gesten lamentiert bis sich die Tafeln mit den Zwischentiteln biegen, vor lauter schriftlichem Mitteilungsbedürfnis.
Am Ende kommt eine etwas zu konstruierte Wahrheit ans Tageslicht, die diesen finsteren Film  endlich erhellt. An „Das Kabinett des Dr. Caligari“ kommt der Streifen natürlich nicht heran; das Potenzial seiner phantastisch-frankenstein'schen Thematik wird dafür zu wenig ausgeschöpft.

29. Oktober 2013

ACCATTONE - Wer nie sein Brot mit Tränen aß

Pier Paolo Pasolini  (Italien, 1961)
"Accattone" war Pasolinis Erstlingswerk, bei dem bereits ganz Italien auf die Barrikaden ging und somit der Grundstein zum Skandal-Filmemacher gelegt wurde.
Erzählt man nämlich in Italien der 60er Jahre eine Geschichte über einen Zuhälter, der auf alles und jeden spuckt, der andere Menschen zu eigenen Zwecken ausnutzt, der nicht mal davor zurückschreckt, seinen eigenen, kleinen Sohn zu bestehlen, als er ihm bei einer Umarmung das Kettchen samt Kruzifix vom Halse stibitzt, der ein Schuft durch und durch ist, vor Raufereien nicht zurückschreckt, das Vertrauen vom anderen Geschlecht ausnutzt, um naive Mädchen herauszuputzen und anschließend auf den Strich zu schicken, und der selbst vor jeder Art von Arbeit und körperlicher Anstrengung zurückschreckt und seinem aussichtslosen Leben und allen Mitmenschen bloß mit beißendem Spott entgegentritt... da muss ja ein ganzes Land in Aufruhr sein, wenn es einen solchen Film serviert bekommt.
Zuerst erweckt er den Anschein, ein weniger schädlicher Neorealismo-Film zu sein, auch wenn die Zeit für solche Nachkriegswunden in den 60ern längst vergangen war. Die Kriegstrümmer waren beseitigt und boten plötzlich den Blick auf andere, bzw. weitere Probleme. Man saß bloß herum, spielte Karten, verplemperte sinnlos die Zeit und verbrachte ganze Tage zusammen mit abgestumpften Gleichgesinnten. Das römische Zuhälter- und Dirnenmilieu wird zu all dem von Johan Sebastian Bachs "Matthäus-Passion" musikalisch verziert. Wenn Accattone (Franco Citti, damals direkt aus dem Film-Ei geschlüpft!) dann noch für all die Schandtaten mit seinem Tod büßen muss und sich einer in der Menge vor seiner Leiche bekreuzigt, ist der Skandal perfekt und der Film nicht weit davon entfernt.

28. Oktober 2013

EDIPO RE

Pier Paolo Pasolini  (Italien, 1967)
Pasolini stellt sich dem Ödipus-Thema standhaft in den Weg, beginnt von den 20er Jahren zu erzählen und verzichtet zunächst auf unnötige Worte, setzt lieber auf seine bewährte Bildsprache, was ja auch vollkommen genügt, weil Silvana Mangano wieder dabei ist. Sie muss ohnehin nichts tun; bloß mit ihrem Sohn schweigend auf der Wiese sitzen und in die Kamera schauen. Das genügt vollkommen, die Musik übernimmt den Rest.
Dann gibt es den überraschenden Schwenk, der uns mal wieder in Pasolinis Wüstenlandschaften verfrachtet, wo man gleich den Staub und Sand in den Augen zu spüren bekommt. Er erzählt hier vom alten Griechenland, wie der kleine Ödipus von seinem Vater ausgesetzt wird, weil dieser Angst vor der Prophezeiung hat, sein Sohn würde ihn töten und mit seiner Frau im Bett landen. Ödipus wächst zum Mann heran und begegnet zufällig seinem Vater samt Eskorte, irgendwo in der Einöde. Beide wissen nicht, wen sie in dem Augenblick vor sich haben, dem Sohn wird bloß befohlen, den Weg zu räumen, wodurch er sich beleidigt fühlt, zuerst die Eskorte aus vier bewaffneten Männern töten und schließlich seinen eigenen Vater ermordet, völlig unwissend, wen er da mit dem Schwert niedergemetzelt hat.
Pasolini legt ganz klar sein Augenmerk auf diese Szene, die vollkommen ausgedehnt erscheint. Franco Citti als Ödipus stürzt sich in blinder Wut nacheinander auf seine Gegner, am Ende bleiben bloß noch paar tote Körper in einer völlig kahlen Landschaft liegen, afrikanische Trommeln und eine flehende Flöte begleiten jeden Schritt.
Die legendäre Ehe mit seiner eigenen Mutter folgt im Anschluss, obwohl der Inzest Pasolini weniger zu interessieren scheint als die Thematik des blutrünstigen Vatermordes. Da sollen autobiographische Züge ins Spiel kommen; die von Hass erfüllte Beziehung des Regisseurs zu seinem Vater, die "Edipo Re" vielleicht zu seinem persönlichsten Werk macht.

24. Oktober 2013

GRAVITY

Alfonso Cuarón  (USA, 2013)
Dass mich jemals Sandra Bullock und George Clooney ins Kino locken würden; und dann auch noch ein Regisseur, bei dem man lediglich was von „Harry Potter“ und „Pan's Labyrinth“ zu lesen bekommt. Da muss es ja thematisch eine wahre Explosion sein, wenn schon kein Name von Beteiligten überzeugen kann. Verlockend ist es ja auch durch seine Andersartigkeit, wo doch das Sci-Fi-Genre meistens mit Materialschlachten und der hilflosen Suche oder der strapaziösen Auseinandersetzung mit fremdem Leben daherkommt. Da ist Cuaróns Ansatz schon ganz anders, aus den endlosen Weiten des Universums plötzlich ein Kammerspiel für zwei Darsteller zu machen und sogar weitgehend auf eine greifbare Umgebung zu verzichten, auf die man den Fuß setzen könnte. Was im Weltall ohnehin schon schwer ist. Er lässt beide lieber im Nichts schweben, in einer endlosen Schwärze.
Bullock ist Bio-Medizinerin, Clooney Astronaut. Beide auf einer gemeinsamen Weltraum-Mission, wo sie zuerst an ihrem Shuttle herumwerkeln und die gigantische Erdkugel als riesiger Beleuchtungskörper dient, von dem dieser außergewöhnliche Arbeitsplatz erstrahlt wird. Das sind auch die schönsten Momente in diesem Film, weil man mitten in eine Handlung hineingeworfen wird, die so rätselhaft ungewohnt, gar abstrakt erscheint, weil ganze Kontinente und Ozeane eine Landschaft bilden, wie man sie sonst nie zu sehen bekommt und weil die ewige Stille von leiser Country-Musik aus dem Radio durchbrochen wird.
Doch wir haben es dennoch mit Clooney und Bullock zu tun: Clooney bleibt auch im Weltraum ein zynischer Charmeur, der seiner Partnerin das Ohr blutig redet, bis beide irgendwann miteinander zu kommunizieren anfangen. Da wird der Handlungsort zu einem unüberwindbaren Gegner, weil jedes Wort und jedes besprochene Thema hier draußen so unheimlich bedeutungsschwanger werden. Es hört ja sonst keiner zu (außer uns) und alles drumherum ist bis zu einer ungewohnten Abstraktion reduziert.
Das Shuttle gerät dann schnell in eine Kette von hochdramatischen Unfällen, denen auch bereits andere Raumstationen zum Opfer fielen. Alles vom Menschen Erschaffene zerbröselt, der Kontakt zur Erde wird unterbrochen und Bullock/Clooney, als einzige Überlebenden, müssen sich in der Schwerlosigkeit schwebend und unter steigerndem Sauerstoffmangel, selbst aus der Patsche helfen.
Trotz annehmbarer Einfachheit, ein unheimlich schwer zu bewältigendes Thema, wo dem Regisseur ständig ein übergroßes Genre im Weg steht, das sich zum gesamten Weltraum ausdehnt. Denn entweder reduziert man solche Figuren zu puppenartigen Versuchskaninchen, und lässt sie hilflos und schweigend gegen das Universum ankämpfen und gelangt bei einem philosophischen Experiment an, oder man porträtiert ganz konkrete Charaktere, lässt Persönliches zu. Gefühlswelten die sich überschlagen, Vergangenes, das in dieser Abgeschiedenheit wieder an die Oberfläche kommt und verarbeitet werden will. Was ja Bullock auch ansatzweise tut, weil sie mit Verlust zu kämpfen hat. Oder man geht einen ganz drastischen Weg und erzählt eine intergalaktische Love-Story. Doch fürs Schmusen bleibt kaum Zeit und Möglichkeit, weil der Helm meistens auf dem Kopf sitzen bleiben muss.
Jeder gewählte Weg ist schwer, wenn man nicht gerade ein Kubrick'sches Genie ist. Das beweist Alfonso Cuarón ohnehin und im Finale entscheidet sich schließlich alles endgültig, vor allem die Frage, ob es überhaupt ein guter Film ist.

22. Oktober 2013

DECAMERON

Pier Paolo Pasolini  (Italien, 1970)
Boccaccio und Pasolini waren beide Provokateure ihrer Zeit, deswegen sind diese mittelalterlichen Hirngespinste wie gemacht für den italienischen Regisseur. Da man eine solche Fülle an verschiedenen, kurzen Anekdoten nur in angedeuteten Episoden bewältigen kann, ist Pasolini auch hierfür der richtige Mann, weil er die Episoden-Form ebenso meisterhaft beherrschte wie die ausgedehnte Spielfilmlänge.
Er presst hier diese schlüpfrig-skandalösen Geschichten in ein narratives Muster, welches die klaren Grenzen der Episoden sogar verwischen lässt, weil alles ineinander zu greifen scheint; es ist ein Geflecht aus längeren und kürzeren Handlungssträngen. Mal tragisch, mal komisch, mal skurril und voller Doppelbödigkeiten, Schweinekram und märchenhafter Moral. Manches endet abrupt, um doch wieder aufgegriffen zu werden, wie etwa die immer wieder fortgesetzte Geschichte über den Fresken-Maler und Giotto-Schüler (Pasolini in Person!), der so vertieft in seine Arbeit ist, dass er sogar seine gemeinsame Mahlzeit mit den Gehilfen und den Auftraggebern in voller Hast mit schnellen Happen hinunterwürgt, um sich so gleich wieder der Arbeit hinzugeben.
Man muss jetzt auch nicht auf alles im Einzelnen eingehen; man könne erwähnen, dass Pasolinis Muse Franco Citti wieder dabei ist und ebenso die wunderbare Silvana Mangano in einer kurzen Traumsequenz als heilige Madonna.
Der Film protzt vor Schwung und Inbrunst, ist voller komödiantischer Zeitraffer-Aufnahmen, zitternder Handkameras, Zitate aus der bildenden Kunst und gleicht in seiner Verspieltheit einem erzählerischen Dickicht. Er versammelt die merkwürdigsten Menschentypen, Narren und Heilige, Bettler und Könige, alle von Italiens malerischen Landschaften eingehüllt, wo das ewige Zikaden-Zirpen, die brennende Sonne des Südens untermalt, wo in uralten, abgelegenen Klostern Unmoralisches geschieht, nur um doch noch den Bogen zu den kargen Wüstenlandschaften und den für Pasolini typischen, rustikalen Städten aus Sand und Stein zu spannen.
Es ist ein kleinteiliges Mosaik und doch ein einheitlicher Film, der nicht nur bloß von längst vergangenen Tagen zu erzählt scheint, sondern in seinen unpolierten Bildern den Anschein erweckt, tatsächlich in dieser alten Zeit gedreht worden zu sein.

21. Oktober 2013

MITTERNACHT IM GARTEN VON GUT UND BÖSE

Clint Eastwood  (USA, 1997)
Clint Eastwood wedelt öfters gerne mit der Flagge seines Heimatlandes und klammert sich auch gerne an geschichtsträchtige, amerikanische Themen, man weiß ja, wie er ist. Man muss ihn irgendwie auch interessant finden und man kann kaum einen Bogen um ihn machen und weiß nicht mal wieso.
Auch hier basiert alles auf Tatsachen. Jim Williams (Kevin Spacey) ist ein neureicher Kunstsammler, aber vor allem ein homosexueller Lebemann mit großem Anwesen und ein beliebter Gastgeber turbulenter Partys. Eine bunte, egozentrische Erscheinung, die sich an vielen Fronten leicht Feinde macht und ständig in derem Visier bleibt.
Er lädt den Journalisten John Kelso (John Cusack) ein, der über seine Weihnachtsparty berichten soll, doch das Blatt wendet sich ganz schnell, als Williams bei einem Streitgespräch seinen Liebhaber (Jude Law) erschießt. Notwehr oder Mord, der Sachverhalt bleibt undurchsichtig und Kelson entscheidet sich lieber, ein Buch über den rätselhaften Fall zu schreiben. Vom Journalisten zum Schnüffler, ganz nach dem klassischen Erfolgsrezept.
Eastwood leitet seine Geschichte spannungs- und stimmungsvoll ein; wir lernen einen Haufen exzentrischer, leicht skurriler Figuren kennen, betreten zusammen mit Kelson ein völlig neues Territorium, aus arroganten Stars, falschem Glanz, protzigem Getue und rutschen dann immer weiter in die verborgenen Schattenwelten hinter der polierten Fassade, bis wir auf einmal sogar einer mitternächtlichen Voodoo-Sitzung auf dem Friedhof beiwohnen dürfen. Südstaaten-Mystik gepaart mit einer Figurenzeichnung, die man als freakiges Pendant zu Jay Gatsby oder gar Charles Foster Kane betrachten könnte.
In der ersten Stunde denkt man, das wäre vielleicht sogar einer der besten Eastwood-Filme, doch das Blatt wendet sich erneut, als Williams schließlich doch wegen der Schießerei verhaftet wird und der mühselige Prozess beginnt. Eastwood verlegt dann fast alles und alle in den Gerichtssaal, wechselt das Genre und hemmt plötzlich den Rhythmus, langweilt beinahe durch den neudefinierten Fokus. Oder John Berendts Bestseller-Vorlage, in dem die wahren Begebenheiten bereits verwurstet werden, verläuft sich in ähnlicher Weise. Das Thema überragt irgendwann seine Figuren und das ist in dem Fall irgendwie schade, wenn man schon die Drag Queen, Lady Chablis an Bord hat und die Voodoo-Priesterin, Minerva (Irma P. Hall) die Gegend unsicher macht.

20. Oktober 2013

TEOREMA – GEOMETRIE DER LIEBE

Pier Paolo Pasolini  (Italien, 1968)
Terence Stamp, der in einem Liegestuhl sitzt, der Rimbaud-Gedichte liest, der verhältnismäßig wenig tut, sondern mit bloßer Anwesenheit diese eh schon außergewöhnlichen Bilder verziert; passiv, ruhend und zurückhaltend. Hinter ihm die Luxusvilla einer großbürgerlichen, italienischen Familie, die er besucht. Keiner weiß wieso er überhaupt hier ist, er kam aus dem Nichts, war plötzlich da. Nur ein Telegramm kündigte seine Ankunft an. Der Familienvater, ein Industrieller, liest diese Nachricht, während seine Familie bei gemeinsamer Mahlzeit um ihn versammelt ist.
Stamps Figur ist ein einziges Mysterium, das für Unruhe sorgt, eine Bedrohung für die geordneten Verhältnisse, weil plötzlich alle Familienmitglieder samt der Haushälterin vollkommen in seinem Bann stehen. Eine teuflische Verführung, an der jeder zerbricht, durch die jeder eine persönliche Wandlung durchmacht. Nach der Abreise des rätselhaften Gastes offenbart sich eine schmerzende Leere. Der Unbekannte hinterlässt Chaos, Einsamkeit, Sehnsüchte, Leiden und seelische Qualen. Jede Figur kämpft ihren eigenen, persönlichen Kampf, hinterfragt plötzlich die ihr bisher zugeteilte Rolle in den gesellschaftlichen Zwängen. Statt eine reinwaschende Befreiung anzusteuern, führt die Selbstreflektion zum Wahnsinn und Hurerei (Silvana Mangano ganz großartig!), zur Flucht in eine künstlerische Selbsttherapie, zur religiös-meditativer Enthaltsamkeit und zur Distanzierung vom jeglichem Besitztum bis zur vollkommener Nacktheit.
Morricone und Mozart begleiten diese unheilanrichtenden Bilder, kontrapunktieren die Handlung oder betonen den dramaturgischen Rhythmus und heben den visuellen Erzählfluss in völlig entlegene Spähren.
Der interessanteste, ungewöhnlichste und vielleicht schönste Film der letzten Zeit, denn Pasolini erzählt wie kein anderer, in einer schwindelerregenden Filmsprache, als würde er in die Lüfte steigen, um an der Himmelspforte anzuklopfen und gleichzeitig einem die Hand auf die Schulter legen und damit eine beängstigende, unmittelbare Nähe erschaffen.

17. Oktober 2013

GARP UND WIE ER DIE WELT SAH

George Roy Hill  (USA, 1982)
Spätestens nach dem fürchterlichen "Bis ich dich finde" hat man keinen Bock mehr auf die dicken Wälzer von John Irving. Verfilmt wurden sie bereits mehrere Male, aber eigentlich nie so Irving-gerecht wie die damalige George Roy Hills Garp-Verbeugung, weswegen man den Film gerne hin und wieder herauspackt.
Der junge Robin Williams schlüpft hier in die Rolle des Garp, der - wie das bei Irving meistens so ist - ohne Vater aufwächst, dafür mit einer bemerkenswerten Mutter (Glen Close), die durch ihren Schriftsteller-Sohn dazu animiert wird, selbst zur Schreibmaschine zu greifen und mit ihrem Roman dermaßen erfolgreich wird, dass sie zu einer Gallionsfigur der amerikanischen Frauenbewegung wird. Ihr Haus wird schließlich von den kuriosesten (Frauen)Gestalten bevölkert, von Transsexuellen bis hin zu einer Gruppe, die sich als Protest gegen die Misshandlung eines berühmt gewordenen Vergewaltigungsopfers, die Zungen abgeschnitten hat.
Inmitten all dieser skurriler, tragisch-komischer Begebenheiten steht Garp, der die Welt eben mit anderen Augen sieht, der von seiner Schriftstellerei träumt, obwohl er im Schatten seiner populären Mutter steht, der Kampfringer sein möchte (Irving selbst gibts als Schiedsrichter zu sehen) und der mit seiner Jugendliebe, Helen (Mary Beth Hurt) eine Familie gründet und durch Hoch und Tief seinem Schicksal entgegensteuert.
Dem Filmemacher, der früher mit "Der Clou" und "Butch Cassidy and the Sundance Kid" für Aufsehen sorgte, gelang damit nicht bloß ein filmischer Versuch, sondern eine beachtliche Irving-Verfilmung, die zwar fest mit den Beinen im Mainstream-Kino steht, aber dennoch genug verstörende und groteske Momente beinhaltet, um sich einem breiten Publikum zu entziehen. Hill ist bis heute der einzige Filmemacher, der Irvings Opulenz aus unzähligen Nebenhandlungen und akribisch ausgearbeiteten Lebensläufen, in eine kompakte und eigenständig funktionierende Geschichte zwängen konnte.

16. Oktober 2013

DIE SCHÖNE UND DIE BESTIE

Jean Cocteau  (Frankreich, 1946)
Nachdem man aus der kürzlich gesehenen Cocteau-Doku gelernt hat, dass Jean Cocteau sein Leben in einem Opiumrausch verbracht hat, erklärt das natürlich sein Bestreben, das alte Märchenbuch wieder aufzuschlagen und so etwas wie "Die Schöne und die Bestie" filmisch zu verewigen, dann natürlich auch mit seiner großen Muse Jean Marais, gleich in einer dreifacher Rolle: als draufgängerischer Avenant, als wuschelige Bestie und schließlich als bildhübscher Prinz, nach dem der Fluch und der ganze Ärger endlich vorbei ist.
So zugestaubt archaisch wie sich hier alles anbahnt, ist es letztendlich auch, verdankt aber all seiner schmuddeligen Naivität eine unglaubliche Portion an düsterer Atmosphäre, die man bei Märchenfilmen sonst nur lange suchen kann.
Wenn nämlich der alte Kaufmann und vierfacher Familienvater sich im finsteren Wald verirrt und in dem nebligen Dickicht das von engelhaft-dämonischen Chören begleitete, verborgene Schloss findet, dessen dunkle Gänge von sich bewegenden Kandelabern beleuchtet werden, und er dann auch noch beim Entwenden der Rose schließlich der Bestie begegnet... das alles hat Cocteau in einer unheimlich dichtgesponnenen, poetischen Stimmung eingefangen, die dann auch noch fast überboten werden kann, wenn Bella (Josette Day) in Zeitlupenaufnahmen durch die Schloss-Gemächer zur Bestie eilt. Dann wird es auf einmal verdammt schön und man vergisst für einen Moment die viele hölzernen Momente, übertriebenen Verzierungen und den archaischen Märchenkitsch.
Es bleibt ja immer noch ein großer Film seines Genres, wunderbar fotografiert und von einem eigenwilligen, artifiziellen Schauspiel getragen. Bella und die Bestie scheinen in opernhafter Anmut  rhythmisch zu schweben, schwerlos und gespenstisch durch das Set zu gleiten.
Am Ende freut man sich natürlich, dass alles gut ausgeht, dass der gierige Avenant durch den Pfeil der Gerechtigkeit selbst zur Bestie wird und einen elenden Tod stirbt und dass der Fluch von der Bestie weicht und sie als Prinz mit neuem Antlitz zufälligerweise genauso aussieht wie Avenant, auf den Bella sowieso schon zuvor ein Auge geworfen hat.
Ein ganz außergewöhnlicher Musen-Film, weil Cocteau hier seinen Liebling hinter einer verfilzten, pelzigen Fratze versteckt, um ihn am Ende von all seiner Widerwärtigkeit zu befreien und ihm doch noch ein Denkmal zu setzen.

DER EISKALTE ENGEL

Jean-Pierre Melville  (Frankreich, 1967)
Melvilles Film heißt im Original "Le Samouraï", das passt zu Alain Delons Figur vielleicht auch etwas besser, man denkt dabei aber auch eher an das Kino des fernen Ostens, beim „eiskalten Engel“ hingegen mittlerweile leider an eine verblödete HighSchool- Schmarotte. Filmtitel hin oder her, jedenfalls haben wir dem großen Melville zu verdanken, Delon in einer seiner markantesten Rollen sehen zu dürfen, nämlich als keinen geringeren als den Auftragskiller, Jef Costello. Ohne Schirm, ohne Charme und ohne Melone, dafür mit Waffe, stark unterkühlter Erscheinung, Trenchcoat und Hut. Er ist ein einsamer, wortkarger Wolf mit versiffter Mietwohnung und einem Vogel im Käfig als einzigen Freund und Bedrohungs-Barometer. Costello ist der Typ, der die Drecksarbeit für andere ausführt, sich bei Bekannten Alibis verschafft, Autos knackt und schließlich für einen brenzligen Auftrag einen Nachtclub-Besitzer erschießt. Zusammen mit mehreren anderen Verdächtigten landet er auf der Polizeiwache und Melville zeigt uns hier in detailbesessener Manie eine typische Gegenüberstellung von Zeugen, die sich einbilden ein Gesicht wiederzuerkennen und mehrerer, beinahe identisch angezogener, grimmig dreinschauender, potenzieller Täter. Lauter Hüte und Trenchcoats, die öfters ausgetauscht werden; Melville inszeniert das Spektakel wie eine Film-Noir-Modenschau.
Anstatt, dass sich der Nebel endlich mal lichtet, wird es für Delon immer undurchsichtiger, weil er plötzlich zwischen zwei Fronten gerät. Wegen seinem Polizeiverhör bekommen seine Auftraggeber kalte Füße und versuchen ihn zu beseitigen, gleichzeitig wird jede seiner Bewegungen von der Polizei überwacht. Delon ist auf der Flucht durch ein finsteres, ungemütliches Paris, ohne Vertrauenspersonen, ganz alleine, überall lauert etwas oder jemand; schnell und clever muss er handeln, wenn er nicht erwischt werden will.
Die französische Hauptstadt wird zu einem Irrgarten aus finsteren Sackgassen, die U-Bahn als Beförderungsmittel und die verwinkelten U-Bahn-Unterführungen gleichen einem verworrenen Spinnennetz. Man möchte mit Delon um keinen Preis tauschen, ihm lieber bei der Flucht zuschauen und zu Hause warmen Tee trinken. Aufwärmen muss man sich ohnehin, weil Melville hier einen stimmigen Film abgeliefert hat, der deutlich unter dem Gefrierpunkt liegt.

15. Oktober 2013

TRISTANA

Luis Buñuel  (Spanien, 1970)
Nicht ganz so populär wie der andere Buñuel/Deneuve-Film "Belle de Jour", aber vielleicht kommt diese turbulente Lebens- und Leidensgeschichte von Tristana deswegen auch nicht so ausgelutscht und ausgeleiert daher. Deneuves Figur ist vor allem eine interessante Ergänzung zum vorherigen Film.
Nach dem Tod ihrer Mutter kommt Tristana in Obhut des Don Lope (Fernando Rey), eines lebenserfahrenen, aber mittellosen Bourgeois und Atheisten, der ein relativ einsames Leben führt und lediglich von seiner Haushälterin (Lola Gaos) umsorgt wird.
Tristana erwarten harte Zeiten, als er ihr klarmacht, sie sei für ihn eine Geliebte, er aber gleichzeitig ihr Vormund wäre und nach Herzenslust zwischen den beiden Rollen umherspringen könnte. Sie nutzt jedoch auch ihr Privileg, eine freie Frau zu sein und beginnt mit dem Maler Horacio (Franco Nero) zu liebäugeln, bis beide schließlich den aufgebrachten, eifersüchtigen Don Lope und die Stadt hinter sich lassen und ein gemeinsames Leben anfangen. Die junge Frau erkrankt jedoch ernsthaft und Horacio bringt sie wieder zu Don Lope.
Buñuel zeichnet wieder mal eine Fülle an Situationen, in denen die Beziehungen und das Miteinanderauskommen unterschiedlicher Figuren, von ihrer jeweiligen sozialen Lage abhängig gemacht wird. Tristanas Erkrankung droht sie zu seiner absoluten Gefangenen zu machen, weil ihr Bein tragischerweise amputiert werden muss. Auf einmal kommen Krücken und Beinprothesen ins Spiel; die Verstümmelung einer schönen Frau; Buñuels makaber-erotische  Mätzchen.
Tristana und Lope heiraten schließlich, doch wenn auch die zugespitzte Lage auf eine bedingungslose Unterwürfigkeit hindeutet, nimmt alles schnell einen überraschenden Lauf, weil ihnen der Regisseur in die Quere kommt und Buñuel lenkt gerne alles in ungewohnte Richtungen. Tristana verzichtet bereits auf die gemeinsame Hochzeitsnacht, indem sie den erstaunten Don Lope auf sein fortgeschrittenes Alter aufmerksam macht. Die Zeit rennt und der alte Mann wird zunehmend älter, kränker, hilfloser, bis Tristana ihre Oberhand restlos ausnutzt und zur Katastrophe herbeiführt.
Dass alles auf ein dramatisches Ende hinausläuft, erkennt man bereits aus Tristanas mehrmals wiederkommendem Traum, wo man Fernando Reys abgeschnittenen Kopf als schwingenden Glocken-Klöppel bestaunen darf. Buñuel war eben ein alter Spaßvogel, der gerne seinen eigenwilligen Humor mit einbrachte. Unterschwellig witzig bleibt der Film, bei all seinen tragischen Wendungen, ohnehin. Und trotz fehlender, surreal-absurder Akzente seiner darauffolgenden, filmischen Schlussphase.

12. Oktober 2013

THE TREE

Julie Bertuccelli  (Australien, Frankreich, Italien, Deutschland, 2010)
Filme aus Down Under, die ebendort angesiedelt sind, bekommt man eh schon verhältnismäßig selten zu sehen und dann ist es noch einer, der sich heimlich und behutsam von den Leinwänden davongeschlichen hat und mittlerweile auf DVD-Wühltischen im Sonderangebot zu finden ist. Zu Unrecht, wohl bemerkt, weil er ein wirklich schöner Film ist, von dem man nicht viel erwartet hätte, ihm aber dennoch Qualitäten zusprechen muss.
Das australische Outback ist hier Heim und Heimat von Familie O'Neil, einem glücklichen Ehepaar samt vier Kindern. Doch das Familienglück währt nicht lange, weil der Vater am Herzinfarkt stirbt und das Familiendrama somit eröffnet ist.
Seine Frau Dawn (die immer herrlich wehleidige Charlotte Gainsbourg) trauert in unterschiedlichen Phasen, irgendwo zwischen aussichtsloser Verzweiflung und einer quälenden Depression, die sie ihre eigenen Kinder vernachlässigen lässt. Ihre kleine Tochter Simone ist zudem in einem bockigen Alter und will den Tod ihres Vaters und ein weiteres Leben ohne ihn nicht akzeptieren. Dass ihre Mutter zu all dem den hilfsbereiten George (Marton Csokas) als Vaters Platzeinnehmer an sich heranlässt, ist für die starrköpfige Tochter völlig inakzeptabel.
Über all dem ragt der gigantische Baum wie eine Krake, die mit ihrem widerspenstigem Wurzelwerk die Fangarme ausbreitet, um die Kanalisation und die Fundamente zu beschädigen und die Gartenzäune der Nachbarn zu zerstören. Je näher sich Dawn und George kommen, desto spürbarer scheint sich der Baum zu rächen, in dem er zunehmend mit der Wucht seiner abgebrochen Ästen ins Innere des Hauses eindringt, als würde er auf vergangene Momente hindeuten, die zu verblasen drohen.
Es mag vielleicht etwas banal erscheinen, die Natur als Symbol für ein verstorbenes Familienmitglied zu verwenden, aber schön ist es dennoch anzusehen, wenn Simone den Baum wie einst ihren Vater fest umklammert und mit ihm redet, während sie in seinem Geäst sitzt. Und weil der Baum schließlich kurz davor steht, gefällt zu werden, damit er nicht noch mehr Schaden anrichtet, veranlasst ihn das, sich an seinen Schändern zu rächen. Er wird zum eigenständigen, lebenden Charakter, der seinen Zorn walten lässt, der Widerstand leistet, der urteilt und bestraft.
Es ist eine traurige Fabel, die sich dank ihrer visueller Konsequenz und der naturbezogenen Symbolik auch im Medium des Animationsfilms gut machen würde. Julie Bertuccelli erzählt mit einer märchenhaften Leichtigkeit und entdeckt die narrative Ruhe für diese äußerst klar und logisch aufgebaute Geschichte. Es gelingt ihr sogar weitgehend, die schwülstig-weinerlichen Klavier/Cello-Untermalungen einzugrenzen, wie sie sich bei Filmen dieser Art gerne einschleichen.
Bertuccelli steht noch in den Anfängen; es kann also noch viel Besseres kommen, aber für ihre bereits vorhandene Reife war die Zusammenarbeit mit Otar Iosseliani, Krystof Kieslowski und Bertrand Tavernier als Regie-Assistentin, sicherlich nicht ganz unbedeutend.

10. Oktober 2013

DER SCHAUM DER TAGE

Michel Gondry  (Frankreich, 2013)
Die Spielkinder unter den heutigen Regisseuren, die nicht erwachsen werden möchten; das muss eine ganz besondere Sorte Mensch sein. Michel Gondry kann man getrost dazuzählen, vielleicht in einem Zug als einen der drei Musketiere, neben Jean-Pierre Jeunet und Wes Anderson. Jene Männer der überstilisierten Optik, des ewigen Herumpolierens bis jede Szene, jede Straße, jede liegende Papiertüte und jeder Fussel im neuen, bedeutungsschwangeren Glanz den Zuschauer blenden und sich der gesamte Film vor visuellem Überschwank selbst bekotzt, bis er an seinem eigenen Erbrochenen erstickt.
"Der Schaum der Tage" ist die Krönung davon. Die Geschichte, bzw. der sich manchmal hervortuende Ansatz davon, ist beinahe nicht vorhanden: Ein Mann (Romain Duris) heiratet eine Frau (Audrey schon-wieder-Amelie Tautou), sie wird todkrank, er kümmert sich um sie. Ähnlich hätte der Regisseur den Inhalt seinem Visual Effects-Team zusammenfassen können, mit der sofortigen Aufforderung, alle Anzeichen von Handlungsarmut mit optischem Prunk zu überdecken. Und davon gibt es reichlich; der Film bebt, pulsiert und platzt vor lauter Farben, Formen, sich bewegenden, zum Leben erweckten Gegenständen und zappelndem Essen auf Tellern; alles in einer gummiartigen Welt versammelt. Wie Disney und Švankmajer in Stücke geschnitten, vermischt und mit dem französischen Amelie-Nostalgie-Liebe-zum-Detail-Charme gewürzt, surreal und fern von der Realität wie nur möglich.
Um den bunten, verspielten Zirkus dennoch intellektuell im Zaum zu halten, taucht Jean-Paul Sartre auf; zwar maskiert als Jean-Sol Partre, aber uns kann man nichts vormachen. Der echte Sartre soll übrigens von der literarischen Vorlage von Boris Vian begeistert gewesen sein, so sagt man. Außerdem wird hier auch öfters zu Duke Ellington getanzt.
Man wäre von diesem Film restlos erschöpft, würde man nicht seinen Über-Stil irgendwann doch akzeptieren, denn auch solche Filme muss es schließlich geben; sie bleiben die die fütternde Hand für eine Menge Spezialeffekt-Tüftler. Abgesehen davon kriegt der Film auch rechtzeitig die Kurve, in dem er zum Ende hin zunehmend an Farbigkeit verliert, bis Tautous Krankheit in den schwarzweißen Bildern einem langsamen, leisen und finsteren Gang in Richtung Abgrund gleicht. Das überrascht, schockiert beinahe. Als würde man nach einer langen, fröhlichen Party alle Gäste auffordern, sich still in Richtung Friedhof zu begeben.
Michel Gondry war schon mit „Human Nature“ und „Science of Sleep“ nahe an der Grenze zum Wahnsinn. Die hat er jetzt längst überschritten.

9. Oktober 2013

KUKUSCHKA – DER KUCKUCK

Alexander Rogoschkin  (Russland, 2002)
„Kukuschka“ ist wirklich ein ganz außergewöhnlicher Film, bei dem man jedoch zunächst ins kalte Wasser geschmissen wird, weil man in den Anfangsszenen vor lauter unterschiedlicher Uniformen, die unbedingt auseinandergehalten werden möchten, schnell den Überblick über das Wer-Was-Warum verlieren kann.
Der Zweite Weltkrieg neigt sich dem Ende zu, so viel ist sicher, Deutschland und Finnland löst ein gemeinsames Bündnis auf und stehen sich feindlich gegenüber, so dass die Sowjets auf der Abschussliste der Finnen stehen. Der Finne Veikko wird als Verräter in der Wildnis Lapplands an einen Felsen gekettet und zeitgleich soll Iwan, der für die sowjetische Armee kämpfte, vors Kriegsgericht gestellt werden und wird durch die gleiche Gegend als Gefangener befördert.
Das Schicksal (und der Regisseur) will es, dass sich beide Männer aus ihrer misslichen Lage befreien können und ihre Wege kreuzen sich auf dem abgelegenen Gut von Anni, der einzigen Frau breit und weit, die alleine mit bäuerlichem Fleiß ihren Hof betreibt.
Und an diesem verlassenen Ort beginnt auch der eigentliche Film mit einem einfachen aber wirkungsvollen Einfall. Es gibt drei Figuren aus drei unterschiedlichen Kulturen, die drei unterschiedliche Sprachen sprechen (Russisch, Finnisch und Samisch) und deswegen nicht miteinander kommunizieren können. Es wird zwar viel geredet, doch die ständigen Versuche, dem Anderen etwas mitteilen zu wollen, enden bloß in einer auf Missverständnissen beruhenden Nicht-Kommunikation. Und wie mag erst ein ganzer Weltkrieg funktioniert haben, wenn bloß drei Menschen, die aus dieser tragischen Periode entsprungen sind, in oft völlig sinnlosen, thematisch versetzten Dialogen ein grotesk-absurdes Zerrbild jener Zeit darstellen.
Durch die Abgeschiedenheit des Handlungsortes und die Nähe zum einfachen Leben, bekommt der Film seinen universellen und poetischen Stempel aufgesetzt. Drei Menschen, die genug gekämpft und gelitten haben, die in dieser erholsamen, unberührten Natur endlich ihren Frieden gefunden haben müssten, fühlen sich unverstanden und wittern Gefahr hinter ihrem Rücken, bis wieder Blut fließen muss. Als Zuschauer ist man immer im Vorteil, weil man dank Untertitel alles versteht und die Tragikkomik dieser Dreieck-Konstellation aufschnappen und begreifen darf. Wären nicht die etwas zu lang geratenen, schamanischen Ritaul-Szenen, wäre es ein durchweg gelungener Film geworden. Aber die seien ihm verziehen; sie illustrieren schließlich das mystisch-rätselhafte Ambiente dieser sonderbaren Landschaft.

DAS APPARTEMENT

Billy Wilder  (USA, 1960)
Ein Wiedersehen mit Billy Wilders Spottbild auf die Moral der Geschäftswelt; das ist beinahe wie „Mad Men“, bloß 50 Jahre früher entstanden, bzw. in der Originalzeit gedreht.
Ein gigantischer, nicht endender Büro-Wolkenkratzer am Anfang, wo Jack Lemmon als Versicherungsangestellter C.C. Baxter an seinem Schreibtisch sitzt und das Gleiche zu tun scheint, wie seine endlos aneinandergereihten, ameisenähnlichen Kollegen. Er ist Sklave einer einschüchternden Bürokratie, der sich ewig vor seinen Vorgesetzten duckt und klein macht. Er ist ein Zahnrad im undurchschaubaren Gesamtsystem, das nach einem festgefahrenen Prinzip zu funktionieren scheint.
Er ist nämlich gleichzeitig der Typ mit einem Junggesellen-Apartment in Manhattan, einer gemütlichen Wohnung, die er zwar hat, zu der er jedoch dummerweise nicht immer Zutritt bekommt. Baxter stellt nämlich seine eigenen vier Wände anderen, leitenden Angestellten zur Verfügung. Das Appartement wird zur Spielwiese gelangweilter Ehemänner und Bürokraten, wo sie ihren verbotenen Seitensprüngen und anderen, heimlichen Affären nachgehen können. Baxter nimmt das alles hin, sitzt längst verschnupft nach Feierabend auf der Parkbank, gebeutelt, erschöpft und psychisch kleingeprügelt und träumt von den ihm versprochenen Aufstiegsmöglichkeiten.
Shirley MacLaine ist auch dabei, als Lift-Girl in der gleichen Firma, mit der sich das gesamte männliche Personal ein flüchtiges Abenteuer zu wünschen scheint. Nur Baxter selbst, als einzig anständiger Mitarbeiter, empfindet mehr für das Mädchen, welches bedauerlicherweise in eine Liebelei mit dem Firmenchef verwickelt ist. Alle Wege, Intrigen und Probleme führen letztendlich in das berüchtigte Appartement und müssen dort gelöst werden.
Baxter wird dabei durchgehend vor die große Frage gestellt, ob die eigene Karriere verlockender ist, als die Anstrengung, bloß ein guter Mensch zu sein.
Billy Wilder war hier auf dem Zenit seines künstlerischen Schaffens. Es regnete wichtige Filmpreise und lobende Worte und „Appartement“ zählt sicherlich auch zu seinen allerschönsten Filmen. Vielleicht ist es sogar sein wichtigster, auch wenn er immer von der noch größeren Popularität von „Manche mögen's heiß“ überschattet wird. Aber wenn man schon diese beiden Filme überhaupt gegenüberstellen möchte, ist „Appartement“ sicherlich der fiesere und der schwärzere von diesen beiden Schwarzweiß-Filmen, der die Geschäftsmoral einer egozentrischen Businesswelt demaskiert und im Gegensatz zu dem Lemmon/Curtis-Geschlechtertausch ganz ohne Mummenschanz, Frauenfummel und überspitzten Klamauk auskommt. Wilder konnte eben jedes Mal mit seinem ausgetüftelten Humor und der Passgenauigkeit seiner präzis durchdachten Szenenabfolgen, bestens unterhalten und mit dieser speziellen Thematik ohnehin in genügend Wunden bohren. Jack Lemmon glänzt deswegen wie gewohnt und vielleicht auch ein bisschen mehr, doch Shirley MacLaine war nirgendwo so präsent und so aufregend wie in „Das Appartement“.

IM REICH DER SINNE

Nagisa Ōshima  (Japan, 1976)
Die wahre Geschichte um Abe Sada, die im Japan der 30er Jahre ihren Geliebten strangulierte, ihm anschließend sein Geschlechtsteil samt Hoden abschnitt und mit den blutigen Trophäen durch die Straßen von Tokio herumlief, wurde auch schon von Noboru Tanaka unter dem Titel „Die Geschichte der Abe Sada“ verfilmt. Ein längst gesehener Film, an den jedoch kaum einer Erinnerung heranreicht, aber kaum anzunehmen, dass der Sensationsgehalt dieses Zwischenfalls nur halb so skandalös und bluttriefend daherkam, wie ein Jahr später in der Verfilmung von Nagisa Ōshima. (Tanakas Film wird dennoch bald aufgefrischt).
Der Regisseur hatte es in seiner Heimat mit einer solchen Thematik nicht gerade leicht und musste den Film schließlich in Frankreich fertigstellen. Was ihm am Ende gelang, ist ein großer Klassiker des prickelnden Pinku eiga-Genres, dessen Inhalt man erst einmal wiedergeben sollte:
Kichizō betreibt ein Geisha-Haus, wo er die Dienerin Abe Sada kennenlernt und er keinen Hehl daraus macht, dass er es von Anfang an auf sie abgesehen hat, was der verheiratete Lustmolch und Familienvater auch sofort unter Beweis stellt. Inhaltlich lässt sich die folgende Handlung auch schnell zusammenfassen, weil der erwartungsvolle Zuschauer zum malträtierten Voyeur degradiert wird, der mit den beiden Liebenden zusammen eingesperrt, Zeuge einer leidenschaftlichen, sexuellen Begierde wird, wo Lust und Phantasie keine Grenzen kennen und es deswegen auch keine Verschnaufpausen zwischen den Liebesakten zu geben scheint. Die bloße Fleischeslust reicht jedoch irgendwann nicht mehr für die nötige Befriedigung und muss mit Lustschmerzen ergänzt werden, was den Film plötzlich in ganz andere, morbide Sphären hievt.
Nagisa Ōshima erzählt uns in gekonnt durchkomponierten Bildern von der Gratwanderung zwischen Lust und Tod und von der Verschmelzung dieser beiden gegensätzlicher Zustände. Filmästhetisch gibt es auch nichts zu bemängeln, bloß übertrumpft der Skandalgehalt die Handlungsarmut, oder die inhaltliche Eintönigkeit. Man könnte jetzt von Langweile sprechen, aber dafür wird man viel zu sehr auf das monströse Finale vorbereitet, das man voller Spannung erwartet.

7. Oktober 2013

MUSIK IM DUNKELN

Ingmar Bergman  (Schweden, 1948)
„Musik im Dunkeln“ entstand nach dem harmlos wirkenden „Schiff nach Indialand“, muss also ebenso zu Bergmans jungfräulicher Frühphase dazugezählt werden, noch einige Jahre, bevor die wirklich großen und wichtigen Filme folgen sollten.
Es geht um die Liebe zwischen dem blinden Musik Bengt (Birger Malmsten) und dem Hausmädchen Ingrid (Mai Zetterling). Bereits in den ersten Filmminuten inszeniert der junge Bergman auf eine beängstigend unbeholfene Weise den tragischen Zwischenfall, dem Bengt seine Erblindung zu verdanken hat. Er war damals Rekrut und wollte bei einer Schießübung des Militärs ein harmloses, niedlichen Hündchen aus der Schießrichtung wegschäuchen und geriet selbst in den Kugelhagel. Auf den Zuschauer wirkt diese Szene eher wie eine brutale Hinrichtung als ein Unfall der „lediglich“ zur Erblindung des Protagonisten herbeiführte. Bergman stopft als Zwischenstück einige symbolisch-albtraumhafte Szenen hinein, wie eine Mischung aus B-Movie-Horror, Hitchcock und Dali; stimmungsvoll aber ein bisschen danebengegriffen.
Der blinde Bengt lebt von da an bei seiner Tante, wo er musikalisch unterrichtet wird und die hübsche Ingrid kennenlernt. Die gegenseitigen Annäherungsversuche werden jedoch von den gesellschaftlichen Standesunterschieden gehemmt und Bengt konzentriert sich zunächst auf seine musikalische Laufbahn. Von der Musikschule abgelehnt, wird er zum Restaurant-Pianisten und anschließend zum Klavierstimmer an einer Blindenschule.
Bengt, ein armer Hund, der von der Welt nichts mehr sieht und öfters ausgenutzt und betrogen wird, irrt nur noch in der endlosen Finsternis umher, und für uns Zuschauer bleibt es in diesem Film ebenso dunkel, schattig und einengend, bis Bengt irgendwann doch wieder abends in der Stadt über Ingrid stolpert. Beide finden zwar wieder zueinander, müssen sich aber vor den Vorurteilen anderer wappnen und sich sogar auf dem Weg zum Traualtar die Moralpredigt des Pfarrers anhören, der seine Bedenken zu einer solchen Ehe äußert.
Das ist Bergmans angeblich geglückter Versuch, einen publikumstauglichen Film auf die Beine zu stellen. Es mag ihm ja gelungen sein, auch wenn dieser Regisseur, wie man ihn später als schonungslosen Charakter-Filmer kennenlernen durfte, hier eher mit Abwesenheit zu glänzen scheint. Ein solider Film, aber (noch) kein Bergman.

5. Oktober 2013

DIE ZWÖLF GESCHWORENEN

Sidney Lumet  (USA, 1957)
Gerichts/Justiz-Filme sind oft etwas abschreckend, aber wenn der Name Sidney Lumet obendrüber steht und sein Film eh schon zum Klassiker dieses ungelenkigen Genres avancierte, sollte man sich früher oder später doch darauf einlassen.
Lumet eröffnet sein filmisches Œuvre (es war sein filmisches Debüt!), ohne unnötige Spielereien und Verzierungen, sondern reduziert seine Einleitung auf paar Außenaufnahmen vom Gerichtsgebäude und hält noch das Treiben auf dessen Gängen fest, damit der Zuschauer weiß, wo er die nächsten 90 Minuten eingekerkert wird.
Wir bekommen nur noch am Rande den Ausklang eines Mordprozesses mit, bei dem ein 18jähriger aus den Slums beschuldigt wird, seinen eigenen Vater ermordet zu haben. Schnell werden die zwölf Geschworenen ins Geschworenenzimmer geschickt, wo sie zu einem einstimmigen Ergebnis kommen müssen und der Film verwandelt sich zu dem, was er auch ist: ein Kammerspiel für zwölf Darsteller. Alle erklären den Jungen für schuldig, bis auf den Geschworenen Nr. 8, Architekt von Beruf und von Henry Fonda verkörpert. Die restliche Truppe vertritt unterschiedliche Motive, teilweise völlig an den Haaren herbeigezogen, irgendwo zwischen unüberlegt, fremdenfeindlich und gelangweilt, nur um schnell ein Urteil zu fällen und den Raum zu verlassen. Doch so einfach kommt keiner davon, weil Henry Fonda nicht nur mit seiner Skepsis der Sache auf den Grund gehen will, sondern mit seinen Zweifeln und Vermutungen nach und nach die restlichen Männer auf seine Seite ziehen kann. Für den Zuschauer bleibt nichts anderes übrig, als zu beobachten, in welcher Reihenfolge und aus welchen Gründen die einzelnen Geschworenen ihrer ursprünglichen Überzeugung nachgeben. Einzig Geschworener Nr. 3 bleibt weiterhin stur, was auch gut ist, denn sonst würde es ja keinen Film geben.
Lumets Erstlingswerk soll damals nicht so gut angekommen sein. Am Beispiel des Gruppenverhaltens von zwölf zusammengewürfelten Individuen, rüttelt er ja auch am amerikanischen Justiz-System und beschreibt die Mühen eines einzelnen Helden, gegen eine gleichgültige und selbstsüchtige Gesellschaft anzukämpfen, um einen Verurteilten von seinem tragischen Schicksal zu bewahren.
Ein Raum wie ein Käfig, zwölf schwitzende Darsteller, weil der Ventilator anfangs nicht funktioniert und ein guter Regisseur, der dafür sorgt, dass es nie langweilig wird.

3. Oktober 2013

RYANS TOCHTER

David Lean  (Großbritannien, 1970)
David Lean war ein visueller Ästhet und Verfechter der narrativen Langsamkeit wie kaum sonst jemand, weil er fast jedes Mal für seine opulente Bildsprache enorm viel Spielzeit zur Verfügung hatte, so dass er jede banale Geschichte zu einem gigantischen Epos aufblasen konnte.
Auch in „Ryans Tochter“ hält er sich eisern an das altbewährte Schema, doch dieses Mal legt er sich selbst eine Schlinge um den Hals, weil das Bauwerk auf wackeligen Säulen getragen wird. Denn was hier episch wirkt, ist im Grunde nur eine kleine Geschichte, über Rosy (Sarah Miles), die Tochter eines Wirts in einem irischen Küstendorf, die sich in ihren ehemaligen Lehrer Charles (Robert Mitchum) verliebt, so dass beide heiraten, sie aber schnell unglücklich wird, weil es ihrer Meinung nach nicht alles sein kann, was man vom Leben erwarten kann. Der Alltagstrott schwindet jedoch bei Ankunft des Major Doryan (Christopher Jones), eines vom Kriegstrauma gebeutelten und körperlich geschwächten Frontveteranen, in dem Rosy sofort eine Abwechslung von ihrem unerfülltem Eheleben erkennt.
David Lean zeigt sich von da an, von einer ungemein sensiblen Seite, weil er die beiden, heimlichen Liebenden von der Wucht der unberührten Natur Irlands umschließt. Die ohnehin schon beeindruckenden Bilder treibt er mit seinen Naturmetaphern vollkommen auf die Spitze. Visuelle Poesie und Schönheit überlagern sich nur noch, erreichen die Schwelle zum Kitsch und es fallen wenige Worte, bloß Bilder und noch mehr Bilder. Diese Liebe, die so nicht sein darf bringt natürlich katastrophale Konsequenzen mit sich, weil die Dörfler so etwas nicht dulden, und im letzten Drittel legt der Regisseur den Schwerpunkt auf brechend volle Massenszenen. In der Inszenierung hat das schon etwas Musical-artiges, wenn das gesamte Dorf gemeinsam voranschreitet, bloß wird nicht gesungen; für die Musik ist sowieso schon Maurice Jarre zuständig, was dem Film ungemein schadet. Jarre übergießt diese perfekte Optik mit einer musikalischen Brühe aus altmodischer Heiterkeit und militärischem Drill. Bilder, die so stark sind, verlieren an Wirkung und Kraft. Warum ein David Lean so etwas Grausames duldet und die Zerstörung seines eigenes Werkes fördert, bleibt völlig schleierhaft.
Was für ein Mensch mag wohl David Lean gewesen sein, dieser hochsensible und talentierte Maler wuchtigen Filmbilder? Er drehte nicht sehr viele Filme, aber hinterließ viele und vor allem sehr tiefe Spuren. Man mag im erzählerischen Überschwang, Pathos und Kitsch vorwerfen und wahrscheinlich sind seine drei großen, filmischen Monumente (die Kwai-Brücke, Lawrence und Schiwago), wenn man sie zusammenbündelt, inhaltlich bei Weitem besser und weniger trivial als dieser Irland-Film, der tatsächlich Ähnlichkeiten zur Flauberts Bovary-Thematik aufweist.
Aber auch wenn dieser Film an den Kinokassen floppte und Lean lange danach keinen Film mehr drehte, ist Eines sicher wie das Amen in der Kirche: „Ryans Tochter“ ist ein ebenso großes Erzählkino, das sich mit seiner perfekten Bildsprache, in der damals innovativen New Hollywood-Konkurrenz vor Nichts verstecken muss und sogar seine anderen, berühmteren Filme überragt.

2. Oktober 2013

DIE NEUNSCHWÄNZIGE KATZE

Dario Argento  (Italien, Frankreich, 1971)
Und wieder so ein verzwickter Unfug von Dario Argento. Im Vergleich zu "Suspiria" oder "Tenebrae" fällt er relativ harmlos aus. Weniger Blut, abgehackte Körperteile, durchbohrte Körper und durchgeschnittene Kehlen. Hier wird eher mit dem altbewährten Draht gewürgt und mit vergifteter Milch hantiert; da macht man sich die Hände weniger schmutzig. Auch gibt es weniger nackte Haut, und all dies führt letztendlich dazu, dass es angeblich der einzige Argento-Film war, der von der Zensur verschont wurde.
Wir befinden uns in Italien, wo nachts der typische, niemals gezeigte, sondern bloß angedeutete  Argento-Schurke (oder Giallo-Schurke) in ein medizinisch-biologisches Institut einbricht, lediglich den Nachtwächter außer Gefecht setzt, aber scheinbar nichts erbeutet. Polizei und Presse sind sofort an Ort und Stelle. Karl Malden ist hier der erblindete Ex-Journalist, der mit den Augen seiner kleinen Nichte dennoch mehr zu sehen bekommt, als so manch ein tollpatschiger Bulle. Außerdem scheint er vor den folgenden Übergriffen des Täters sicherer zu sein, als die meisten anderen Figuren, denen nacheinander die Luft zugeschnürt wird und sie bloß noch im beunruhigenden Zustand in ihren Wohnungen aufgefunden werden. Gott sei Dank gibt es hier noch James Franciscus als jungen, Karriere anstrebenden Journalisten, der sofort seine eigene Nase in diese undurchschaubare Handlung hineinsteckt und sich schnell mit dem blinden Malden verbündet, um den Serienkiller zu überführen. Er ist vor allem der Typ Mann, der mit einem plakativen Spruch gerade die Frau ins Bett kriegt, die bei den männlichen Individuen das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Diese Bemühungen, den Fall rasch lösen zu wollen, lassen jeden bloß im Dunkeln tappen und das liegt nicht unbedingt nur an dem nächtlichen Besuch einer Gruft, wo einer Leiche wichtige Beweismittel entwendet werden. Die menschlichen Chromosomen spielen in dieser Geschichte jedenfalls eine entscheidende Rolle, weil im bereits erwähnten Institut an einem Verfahren gewerkelt wird, wie man eine angeborene, kriminelle Veranlagung von Vornherein isolieren kann.
Das ist mal wieder ein Giallo-Film nach allen Regeln, wirr, spontan, unsinnig, finster, muffig, witzig und vom hektischen Soundtrack Ennio Morricones begleitet. Bloß das Blut; ... nicht ganz so rot und nicht in gleichen Mengen wie man es von diesem Genre erwartet.

1. Oktober 2013

ON THE ROAD

Walter Salles  (USA, 2012)
Wirft man einen neugierigen Blick darauf, was Walter Salles sonst noch so verbrochen hat, stoßt man überraschenderweise auf zwei gute Filme: Das ist zum einen "Die reise des jungen Che" und vor allem die sehr schöne Ismail Kadare-Verfilmung "Hinter der Sonne", die sogar besser als die Vorlage war. Dieses Kunststück soll ihm erst mal einer nachmachen.
Hätte man das vorher gewusst, wären die Erwartungen an einer Kerouac-Verfilmung etwas höher und hätte man noch rechtzeitig erfahren, dass kein anderer als Francis Ford Coppola hier als Co-Produzenz fungiert, der seit Jahrzehnten die Rechte an dem Buch in seiner Schublade aufbewahrt, würde man vielleicht sogar einen wirklich guten Film erwarten. Aber es ist nun mal kein Coppola-Film, weil Coppola selbst nie Zeit dafür gefunden hat. Ein grundlegendes Problem ist aber vielleicht, dass der Film zur falschen Zeit gedreht wurde. Denn Kerouacs Opus magnum, das vor sprachlicher Intensität überquillt, hätte vielleicht nur Berechtigung gehabt, auf Kinoleinwände übersetzt zu werden, wenn es die wilde, unberechenbare Zeit des New Hollywood erwischt hätte; diese gewisse Authentizität, die man bei Hoppers "Easy Rider" während der Mardi Gras-Aufnahmen zu spüren bekommt. Oder eine solche Verfilmung hätte noch früher realisiert werden müssen, damit sie sich noch ganz lebhaft an die echte Beat-Generation hätte klammern können, als der Bebop noch wirklich den Zeitgeist widerspiegelte und die Jazzklänge die Räder auf dem Asphalt zum Glühen brachten. Deswegen erscheint das Jahr 2012 für eine Kerouac-Verfilmung beinahe wie Science Fiction.
Walter Salles bemüht sich dennoch und schickt Sal Paradise (Sam Riley) auf seine Irrfahrt quer durchs Land, wo er zuerst Dean Moriarty (Garrett Hedlund) begegnet. Es ist die Schlüsselfigur, die alles vorwärtstreibt, die nach dem echten Leben hungert; sie ist das stets wild pochende Herzen dieser Geschichte. Zumindest ist sie das im Buch. Im Film bleiben die männlichen Hauptfiguren halbwegs charismatische, sensible Typen, gefangen in Körpern von viel zu modernen Hipstern, Schönlingen und Möchtegern-Schriftstellern.
Im Verlauf dieser Reise gesellen sich weitere Figuren hinzu, von Kirsten Stewart, Kirstin Dunst, Viggo Mortensen, Amy Adams und Steve Buscemi verkörpert, um die bekanntesten aufzuzählen. Sie alle sind Weggefährten und Zwischenstopps für Sal und Dean, auf ihrem rastlosen Trip ins Nirgendwo.
Kennt man Kerouacs Vorlage nicht, fragt man sich vermutlich, was der ganze Scheiß eigentlich soll. Ist man mit dem Buch aber doch vertraut, fragt man sich das um so mehr, wenn man diese Odyssee beobachtet, deren Weg viel zu geradlinig und zu still verläuft, statt in einem verworrenen Dickicht aus holprigen Seitenwegen und einer explodierender Musikcollage aufzugehen, die sich der ungezügelten Spontanität und dem unbeugsamen Schreibrhythmus des Jack Kerouac halbwegs nähern könnte.