8. September 2014

1900

Bernardo Bertolucci (Italien, Frankreich, Deutschland, 1976)
Pieter Bruegel der Ältere malte einst „Die Heuernte“ und „Die Kornernte“, jene Gemälde, die am ersichtlichsten von allen seinen Bauern-Bildern die Arbeit und die darauf folgende Erschöpfung porträtieren. Sein bewusster Einsatz der dominierenden, gelben Farbe des schnittreifen Getreides und somit ein unmittelbarer Einblick in die Welt und Überlebensquelle dieser Leute. Und plötzlich tun sich Parallelen auf, denn mit dieser visuellen Ausführung und der gesamten Thematik seiner Bilder erinnert er an Bernardo Bertoluccis filmisches Gemälde.
1900 erblicken unsere beiden Protagonisten in der italienischen Region Emilia Romana, das Licht der Welt. Olmo (später Gérard Depardieu), das Kind von Landarbeitern, und Alfredo (später Robert De Niro), der Sohn der Herrschaft auf dem Landgut.
Zwei ahnungslose Jungen, von den stolzen Familienoberhäuptern, fest umklammert in den Händen gehalten. Zwei kleine Nachkommen für zwei verschiedene Lebenswege vorbestimmt, die sich dank einer tiefen Freundschaft unentwegt kreuzen werden. Und das ist das schöne an dem Film: diese ungewöhnliche Freundschaft, die von der ungleichen Abstammung und der stets wiederkehrenden Entfremdung beider Freunde, dennoch niemals zerrissen werden kann.
Kulissenartig folgen Bilder von abgenutzten Bauerngesichtern, die in ihren tristen Stuben sitzen, die auf dem Feld arbeiten, sich allen Wetterverhältnissen und den Launen der Gutsbesitzer aussetzen. Die armseligen Lebensverhältnisse und im Gegenzug die Bräuche, Sitten und Feste; wie eine Ablenkung von der Ausbeutung durch die dekadenten Landbesitzer und dem Fanatismus der Faschisten. Die Tragik dieser Welt: die Gepflogenheiten und Bräuche, deren Sinn und Zweck im Kampf ums Überleben entfachen. Die Melancholie der Erzählung wird in dem ockerfarbenen Gewand des Films um so malerischer. Eine gute Beispielszene dafür ist Olmos Froschfang. Wie er sich die lebenden Frösche an seinen Hut bindet und ihre kleinen Glieder hilflos vor seinen Augen zappeln. Ein schockierendes Bild und doch nichts als nackter Überlebensdrang, oder die Thematisierung existenzieller Grundbedürfnisse. Gefühle von Ekel und Empörung sind hier fehl am Platz. Später wird ein Schwein geschlachtet. Eine detaillierte Darstellung des sauberen Schnittes durch den leblosen Körper, im Gegenzug die sinnlose Entenjagd der gemästeten Landherren. Die relative Bedeutung von Schönheit und Abscheu wird hinterfragt.
Und der Regisseur wedelt hier kräftig mit der roten Flagge. Der Drang, dem Arbeiter in seine Vierwände, in seinen Teller, aber vor allem in seinen Kopf zu blicken, den Klassenkampf zu feiern und die tragenden politischen Kräfte dieser Zeit zu porträtieren. Bertolucci kämpft seine eigene Schlacht, vielleicht zu beharrlich, eingleisig, gar parteiisch. Hier könnte man an ihm herumnörgeln.
Die einzig wahren Gründe für den bevorstehenden Untergang lassen auch nicht lange auf sich warten: Während die beiden Freunde zu jungen Männern heranwachsen, breitet sich der italienische Faschismus im ganzen Land aus. Die symbolische Ermordung einer Katze durch den faschistischen Gutsverwalter Attila (ein grandios animalischer Donald Sutherland), die auf ihre bestialische Art den Faschismus zum Kampf reizen soll, ist der Anfang für diese grausame Phase Italiens und eröffnet eine Reihe von Morden der unmenschlichsten Art.
Bemerkenswert ist es wie es Bertolucci dennoch gelingt, diese inhaltliche Schwere, diese historische Tragik und diese politisch gelenkten Schicksale durch einen Handlungsstrang zusammenzuhalten, der für einen aufregenden, poetischen und liebevollen Film sorgt.
Es ist das Einfangen von bestimmten Situationen auf der Basis von alltäglichen Begebenheiten und der traditionellen Offensichtlichkeit. Wie Alfredos Ehefrau Ada es bei ihrem Besuch in Olmos Haus selbst hervorhebt, als sie die gemütliche Atmosphäre in seinem Heim beschreibt, die ihr natürlich nur aufgefallen ist, weil es in ihrem eigenen Leben daran mangelt.
Bertolucci schleppt uns einen schweren, großen Felsen an, lässt ihn wie ein Monument vor unsere Füße fallen. Hier ist die Lebensgeschichte der italienischen Landarbeiter verinnerlicht, die Thematisierung der Klassenunterschiede anhand einer ungleichen Freundschaft. Ein filmisches Grundmuster, welches das zentrale Thema mit vielen Verzweigungen füllt, die uns trotz ihrer Vielschichtigkeit und ihrem scheinbaren Ablenkungsdrang keineswegs störend vorkommen; ganz im Gegenteil; sie ergänzen die Story, gehen sogar darüber hinaus und bereichern dieses so eigenartig wirkende Universum.
Die vom Sonnenlicht ausgefressene Landschaft, mit ihrer spezifischen Farbigkeit. Die van Gogh’schen Felder und Heuhaufen. Die idyllischen Bauernhöfe und Landhäuser mit ihren großen Plätzen. Der alte Mann, der seinen Stuhl in der Landschaft positioniert, um ein Liedchen auf dem Akkordeon anzustimmen. Der bucklige Narr im Getreidefeld - eine Art Allegorie zur Rigoletto-Figur - der Giuseppe Verdis Tod verkündet. Das Volksfest im Wald mit den Flötenlauten zwischen dem Bäumen. Ein Grammophon im Gras, das die feinen Leute in Anzügen während ihrer ungewohnten Pose als Landarbeiter begleitet. Das spätere Stadtleben, die Erfahrungen mit Huren und die Drogen. Das theatralisch wirkenden Volkstribunal. Die kurzweilige, weihnachtliche Stimmung und vor allem dieses unaufhaltsame Zeitvergehen, das einerseits durch Orte, Häuser oder gar Dachböden Kindheitserinnerungen erweckt, anderseits aber auch vieles vergessen lässt, was vielleicht damals wichtig war, wenn es nicht gerade mit Absicht verdrängt wird.
Ein Gemälde und kein Film. Mit Pinsel und Farbe erschaffen worden, nicht aber mit der uns vertrauten Kamera gefilmt. So viel ist sicher.