27. Oktober 2011

DER WOLFSJUNGE

François Truffaut (Frankreich, 1970)
Die Neusichtung von Truffauts Verfilmung des Falls Victor von Aveyron, erwies sich als ein ziemlicher Glückfall, denn der Film weiß viel besser zu gefallen, wenn man von vorn herein auf den dokumentarischen Stil eingestellt ist. Außerdem sind die Bilder so großartig durchkomponiert und die Locations so liebevoll-zeitgemäß inszeniert, dass "Der Wolfsjunge" mit Sicherheit zu Truffauts visuell schönsten Filmen gehört.
Speziell die Anlehnung an die Fotografie französischer Vorgänger, wie etwa Robert Bresson, katapultiert den Zuschauer direkt ins 18. Jahrhundert; die Bilder bekommen diesen eigenwilligen altmodischen Ansatz.
Sonst heißt es nur noch zurücklehnen und beobachten wie Dr. Jean Itard (Truffaut in eigener Person!) sein Dschungelkind aufrecht auf die Beine stellt, ihn rasiert, anzieht, und mit einem erhobenen, pädagogischen Finger einen Menschen aus ihm macht. bzw. es versucht.
Allein durch den weitgehenden Verzicht auf ausgeprägte Frauenfiguren, und dem Fehlen des altbewährten Mann/Frau-Thema, ist es immerhin ein Truffaut-Film von hoher Risikobereitschaft, weil er einen radikalen Genrewechsel nicht scheut. Kein großer Truffaut-Film aber ein abwechslungsreicher Seitenweg.

18. Oktober 2011

DIE NIBELUNGEN

Fritz Lang (Deutschland, 1924)
Kein Wunder, dass die Weimarer Republik finanziell in den Abgrund rutschen musste, wenn zu jener Zeit Leute wie Fritz Lang solche Mammut-Projekte wie "Metropolis" oder eben auch "Die Nibelungen" aus dem Boden stampften.
Arte hatte kürzlich die von der Wiesbadener Murnau Stiftung restaurierte (und viragierte!) Fassung der Lang'schen Nibelungen-Saga ausgestrahlt; Gesamtlaufzeit beider Teile beinahe 5 Stunden; danach möchte man nur noch zum Schwert greifen und große Heldentaten vollbringen.
Man mag von dem Film halten, was man will; der Überschwang an Pathos und Heldentum ist natürlich kaum zu überbieten, doch filmtechnisch bleibt dieses riesige, tonnenschwere Monument bis heute ein beeindruckendes Werk. Die vielseitigen, optischen Eindrücke stürzen sich lawinenartig auf den Zuschauer, reizen mit ihrer naiven Nostalgie aber auch ihrer Zeitlosigkeit.
Wenn Siegfried mit dem Drachen kämpft, dann wirkt das für unsere heutigen Sehgewohnheiten eher wie eine Auseinandersetzung mit dem Krokodil aus dem Kasperle-Theater, und weshalb der aufgedrehte, stets gut gelaunte Muskel-Siegfried überhaupt den Drachen töten musste, bleibt eh ein Mysterium, wo doch das friedliche Tier für niemanden eine unmittelbare Gefahr darstellte.
Die Nazis mussten später kräftig Beifall geklatscht haben, dass ein unbekanntes, grässliches Wesen, welches automatisch zu einem potenziellen Feind erkoren wurde, von einem blonden, athletischen Kämpfer abgestochen wurde. Zu all dem machte ihn das noch (fast) unbesiegbar, nach dem er im Blut des toten Drachens eine wohltuende Dusche genommen hat. Welch blutrünstig gefärbte Symbolik!
Und in all der thematisierten, bedingungslosen Treue gegenüber dem König ist der Eid auf Hitler auch nicht weit entfernt.
Aber Schwamm drüber, der Film kann ja nichts dafür. In den (film)historischen Kontext gepackt, muss man solche Werke als museale Schätze betrachten. Eine längst fremde, alte Welt, von Toten besiedelt und von Toten gemacht, und das mit viel Phantasie und Herzblut.
Besonders bemerkenswert bleiben die einprägsamen Kostüme bzw. die Charakterisierung der Figuren. Gesichter irgendwo zwischen Wandertheater, Art Déco-Gotik und einem verstaubten Gruselmärchen. Die Bilder oben erzählen den Rest.

11. Oktober 2011

MELANCHOLIA

Lars von Trier (Dänemark, Schweden, Frankreich, Deutschland, 2011)
Wenn Lars von Trier wieder mit einem neuen Projekt antanzt, dann ist das in den meisten Fällen eine egozentrische Selbstanalyse. Er will uns keinen Gefallen tun, sondern sich selbst therapieren. Bei den jüngsten Dreharbeiten soll es ihm viel besser gegangen sein, als davor bei "Anichrist". Das glauben wir ihm aber nicht. Wenn "Antichrist" der Sturz ins dunkle Loch war, ist "Melancholia" bloß ein Versuch, dort heraus zu kriechen, nur um am Ende kläglich zu scheitern.
Was dem Film zu Gute kommt, denn Lars ist der Mann der dunklen Stunde. Es wird gemunkelt, er würde zurzeit wieder im dunklen Wald hocken und am Drehbuch fürs nächste Schauermärchen tüfteln.
Die Depression der frisch vermählten Protagonistin (Kirstin Dunst) wird im Größenwahnsinn des Films zu einem universellen Problem aufgeblasen; dem gigantischen „Planeten“ Melancholia, der unsere geliebte Erde bedroht. Lars baut unüberwindbare Hürden für seine Figuren, denn er gibt keine Antworten und löst ihre Probleme bloß mit der absoluten Endlösung: Unser Planet ist von Grund aus schlecht und der Mensch ist eh allein im Universum, laut der Protagonistin.
Direkt nach der Kollision beider Planeten kann sich der Regisseur nur noch zwischen einer weißen oder einer schwarzen Leinwand entscheiden. Der Höhepunkt ist die totale Auslöschung; weiter geht es nicht, weil die Filmtechnik in dem Sinn noch in den Kinderschuhen steckt: Der Melancholia-Planet müsste eigentlich noch aus der Leinwand rollen und die Zuschauer plattwalzen.
Was ärgert: Stilistisch lehnt sich von Trier viel zu sehr an seinen Landsmann Thomas Vinterberg und dessen "Das Fest". In beiden Filmen gibt es diese verbale Entblößung verschiedener Charaktere während eines gesellschaftlichen Beisammenseins. Die Handkamera sucht unruhig ihre Motive und treibt die Methode des dänischen Dogmafims auf die Spitze; nur selten können die Bilder in ihrer Nervosität gebändigt werden.
Ähnlich wie bei Terrence Malicks "Tree o Life" schwirrt erneut Stanley Kubrick wie ein wachender Geist über dem Projekt: Lars von Trier nutzt auch ein klassisches Leitthema (Wagners "Tristan und Isolde") als opernhafte Untermalung kosmischer Bilder.
Man kann "Melancholia" dennoch keine Abwesenheit seines Regisseurs vorwerfen. Lars ist allgegenwärtig und ein großer Wurf ist ihm jedenfalls gelungen, bei dem es so herrlich spannend bleibt, weil man nach diesem apokalyptischen Finale nicht weiß, wo der Stein als nächstes landet. Für seinen nächsten Film muss Lars von Trier die Welt ohnehin erst wieder neu erschaffen, die er hier endgültig zerstört hat. Eine gewaltige Aufgabe.

9. Oktober 2011

DAS SCHIEßEN

Monte Hellman (USA, 1966)
Völlig schleierhaft, warum dieser morsche Möchtegern-Western zu so einem Geheimtipp avancierte. Optisch wie ein altes, verwaschenes Unterhemd, das im Wind flattert und in jedem Augenblick von der Wäscheleine wegzufliegen droht, ohne dass es jemand vermissen würde.
Der junge Jack Nicholson ist dabei, ebenso Warren Oates und der eher unbekannte Will Hutchins. Zusammen mit Millie Perkins (war früher als Anne Frank in George Stevens' Film zu sehen) durchqueren sie die endlose Wüste von Utah.
Nicholson ist zuerst der rätselhafte Unbekannte, vor dem man sich hüten sollte und den man nicht so gerne als Reiter die ganze Zeit hinter sich hat.
Die monotone Location wird dem Film schnell zum Verhängnis, weil sie ein offensichtliches Signal dafür ist, dass der Kies bloß für eine Low Budget-Produktion ausgereicht hat. Ein kleinerer Geldbeutel kann natürlich dennoch eine kreative Inspirationsquelle sein, aber der finanzielle Engpass scheint hier die filmischen Möglichkeiten eingedämmt zu haben. Dem Film geht schnell die Puste aus; als hätten die vier Figuren zu viel Sonne und Wüstensand abgekriegt und wären nur noch in der Lage, kreuz und quer durch eine öde Landschaft zu reiten. Ob sich dieser Film erst bei einem Wiedersehen voll entfalten kann, bleibt eher zweifelhaft.

4. Oktober 2011

LE HAVRE

Aki Kaurismäki (Finnland, Frankreich 2011)
Der neue Kaurismäki. Eine Schuhputzergeschichte vor der düsteren Kulisse der französischen Hafenstadt Le Havre. Marcel ist der Mann mit der Schuhbürste und viel zu wenig Kunden. Ein beklemmendes Leben, mit dem er trotzdem zufrieden zu sein scheint.
Die große Wende kommt durch seine Begegnung mit dem kleinen Idrissa, der als Flüchtling aus Gabun in einem Frachter-Container am Hafen gelandet ist, obwohl sein erträumtes Ziel London war. Marcel wird somit aus dem harten Alltagstrott wachgerüttelt, weil er in dem Jungen einen Lichtblick erspäht; eine neue Lebensaufgabe erscheint am Horizont. Er möchte Idrissa helfen und nimmt ihn zunächst zu sich nach Hause, wobei er nur eine handvoll Leute in seinen Plan einweiht, um die schnüffelnde Polizei abzuschütteln.
Kaurismäki hat mit seinem jüngsten Werk mal wieder etwas wirklich Schönes auf die Beine gestellt. Er bleibt der einzige Regisseur, der diese streng konstruierte und optisch nüchterne Erzählweise mit der lakonischen Charakteristik seiner Figuren verbinden kann, ohne einem hartnäckigen Manierismus zu verfallen, sondern immer noch einen eigenwilligen Stil beibehält. Das ist dieser ungeschmückte, groteske Realismus, wie man ihn vielleicht sonst nur bei Roy Andersson findet. Im Gegenzug dazu ein reserviertes Reaktionsvermögen der Figuren, wie oft bei Alex van Warmerdam vorzufinden.
Schönes, tragisch-komisches Kino.

3. Oktober 2011

VOGELFREI

Agnès Varda (Frankreich, 1985)
Zu großer Verwunderung muss ich feststellen, dass dieser Film meine erste Begegnung mit Frau Vardas Kino ist. Was man so liest, liegen anscheinend die ganz großen Sachen schon etwas zurück, gar zur Zeit der Nouvelle Vague-Bewegung. Umso positiver fällt dann diese 80er Produktion auf und umso neugieriger macht sie mich auf weitere ihrer Filme.
Mona (eine sehr junge Sandrine Bonnaire) führt ein Vagabunden-Leben, schlendert durch ein trostlos wirkendes Südfrankreich, stielt und übernachtet in runtergekommenen Hausruinen, trifft auf Menschen, die sie noch tiefer in den Dreck zu ziehen drohen, aber auch solche, die ihr wieder auf die Beine helfen wollen. Doch Mona ist viel zu bemüht, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und nimmt das Landstreicher-Dasein stets in Kauf. Sie bleibt ein ewiges Aschenputtel; eine Metamorphose scheint manchmal so greifbar zu sein, doch sie wendet sich im letzten Augenblick von diesem denkbaren Glück wieder ab und wählt den steinigen Weg durch Frankreichs ungemütliche Landschaften.
Wie schwierig es sein muss, eine solch kreisförmig angelegte Geschichte dennoch mitreißend zu erzählen, über eine Figur, die sich gegen ihre eigene Veränderung und Entwicklung wehrt, bis sie schließlich die Konsequenz ihrer Dickköpfigkeit zu spüren bekommt. Gerade das gelingt Agnès Varda eindrucksvoll.