20. März 2012

RATCATCHER

Lynne Ramsay (Schottland, 2009)
Der 12jährige James wächst im verarmten Teil von Glasgow auf, umgeben von schäbigen Wohnhäusern, fragwürdigen Nachbarkindern, einem Mädchen, das am Ende doch nicht zu ihm steht, jeder Menge Ratten und einem Spielgefährten, der bei einer Rauferei im Kanal ertrinkt, bzw. ertränkt wird. Und dann gibt es noch den Vater, der seinen eigenen Sohn kaum kennt, weil er ihm ständig Schuhe in der falschen Größe kauft.
Die Gegend ist dem Untergang geweiht, den Bewohnern werden vom Staat neue Wohnungen versprochen, und hier liegt das Thema des Filmes: Der Wunsch nach der Geborgenheit eines neuen Heimes, was die Harmonie der Familie und somit das erhoffte Glück gewährleisten würden und wie all diese Wünsche mit voller Wucht gegen die schonungslose Realität prahlen.
Irgendwann gibt es dann die entscheidende Schlüsselszene, in der James in einen Bus steigt und ohne Ziel losfährt, bloß weg aus dem Rattenloch von einem zu Hause, ganz weit, bis die letzte Haltestelle außerhalb der Stadt kommt, bis es nicht mehr weitergeht. Hier findet er ein neues Haus, das noch nicht fertig gebaut ist, mit Blick auf endlose Getreidefelder. Der Film bekommt plötzlich neue Farben, Sonne, Wärme; der Junge lächelt zum ersten Mal während er durchs Feld rennt.
Der Traum und Ausbruch aus dem bisherigen Leben scheint so greifbar zu sein und ist doch so fern, wenn man sich erst mal wieder auf die Wirklichkeit einlässt und sie nicht zu überwältigen weiß.
Zuallererst ist Ramsays Film eine harte Herausforderung, wenn man die englischen Untertitel ausblendet und sich auf die schottisch sprechenden Darsteller einlässt. Der Film geht zwar sparsam mit Worten um, aber das Schottische Englisch ist nun mal eine Sprache für sich, was ihn aber natürlich zu dem macht, was er ist. "Ratcatcher" ist vor allem einer jener Filme, die von seiner ausdrucksstarken Bildsprache profitieren und ihre Geschichte stets visuell weiter treiben können.

19. März 2012

BAMBULE

Eberhard Itzenplitz (Deutschland, 1969)
Bevor Ulrike Meinhof mit der RAF im Untergrund verschwand, steuerte sie noch das Drehbuch für dieses äußerst ansehnliche Fernsehspiel. Der Film gelangte jedoch erst Jahrzehnte später auf die deutschen Bildschirme, weil sich Frau Meinhof zur Entstehungszeit als Andreas Baaders Sympathisantin und Komplizin unbeliebt mache.
Porträtiert werden schwer erziehbare Mädels mit krimineller Vergangenheit, die in einem geschlossenen Mädchenheim in West-Berlin sitzen. Tickende Zeitbomben, die immer nur rebellieren wollen, aber ihre Ziele nicht klar definieren können, was eben ihre Schwäche darstellt und selbst im kollektiven Bambule nicht viel ausrichten kann.
Zwei von ihnen brechen schon am Anfang aus; eine wird gleich geschnappt, die andere kann sich bei Verwandten und Freunden verstecken, aber eben nur verstecken, ohne gültigen Ausweis und in der ständigen Angst entlarvt zu werden, bis sie schließlich den Druck nicht mehr standhält und sich selbst der Polizei stellt, um erneut im Heim zu landen.
"Bambule" zerrt an autoritären Erziehungsmethoden und tritt sogar der Kirche auf den Saum, denn hoffnungslose Fälle werden ins Kloster abgeschoben, wo man jedoch auch nicht erwünscht ist, wenn man den Nonnen mit frechem Mundwerk entgegentritt oder Anzeichen von Homosexualität an den Tag bringt.
Schauspielerisch liegt der Film irgendwo zwischen solide, fragwürdig und theatralisch, macht ihn aber durch seine realitätsnahe, ungeschmückte Darbietung zu einem naiven aber einfallsreichen Seherlebnis.

16. März 2012

DAS TURINER PFERD

Béla Tarr (Ungarn, 2011)
Béla Tarr beweist mal wieder mit seinem jüngsten (und angeblich letztem!) Werk seine schonungslose Unverschämtheit, die Zuschauer mit einem eigenwilligen Erzähltempo auf die Folter zu spannen. Er beginnt mit einem Prolog, in dem es um einen Kutscher, sein Pferd und Friedrich Nietzsche geht und wie kurze Zeit danach bei dem berühmten Philosophen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde, die ihn ans Bett fesselte.
Doch Béla Tarr ärgert uns schon zu Beginn, denn er verwehrt uns schon diese action-reiche Szene mit VIP-Potenzial und lenkt das Geschehen lieber auf das Schicksal des Pferdes und seines Herren.
Direkt danach kommt eine der visuell schönsten und ungewöhnlichsten Szenen der letzten Dekaden, wenn Tarrs Kamera die Kutsche auf der Heimfahrt begleitet, sich Pferd und Fahrzeug mal nähert, mal aus Distanz einfängt oder den Blickwinkel ändert, ganz ohne Schnitt, das Tier mehr tot als lebendig, sein Fell vollkommen durchgescheuert, ein zu bemitleidender Gaul auf Heimfahrt, der mürrische Kutscher auf dem Bock, alles in Schwarzweiß, noch viel qualvoller weil sich das tiefe Cello so süßlich ins Ohr hinein bohrt.
Wenn man dann noch in einem Zug den Einfluss von Tarkowski nennt, ist das Bild des ausgelutschten Kunstfilms geradezu perfekt abgerundet; vielleicht ist er das auch, aber wen kümmert 's.
Und wenn man denkt, dass der Anfang schon der eigentliche Todesstoß für den Zuschauer ist, irrt man ganz gewaltig, denn was folgt ist ein knochenharter, schweißtreibender Existenzialismus von feinster Art. Jetzt geht es nur noch um das Pferd, den Bauern und seine Tochter im abgelegenen Haus, der Wind peitscht einem um die Ohren, der Brunnen vertrocknet, das Pferd möchte nicht mehr den Stall verlassen und ewig nur Kartoffeln auf dem Esstisch. Der ausweglose Kreis des harten (Bauern-)Alltags, dessen Monotonie selbst durch kurze Besuche kaum gestört werden kann, wird niemals durchbrochen.
Béla Tarr hat Langsamkeit und Pessimismus nicht erfunden, aber welcher Regisseur tut das heutzutage mit solcher notorischen Konsequenz eines hartnäckigen Einsiedlers.

15. März 2012

CRUMB

Terry Zwigoff (USA, 1994)
Zwigoffs Dokumentarfilm über Robert Crumb ist ein ganz heißer Zündstoff. Er porträtiert den amerikanischen Undergroundzeichner als einen Mann, vor dem die meisten Comic-Künstler erzittern sollten, weil er einer von den Zeichnern ist, die einfach alles auf Papier bringen können und das noch in einem unverkennbaren Stil.
Ein guter Zeichner ist in erster Linie immer ein guter Beobachter; ebenso Crumb, der alles in sich einsaugt was ihn umgibt, um es dann in seinen eigenwilligen Karikaturen auszuspucken. Crumbs Welt ist ein humoristischer Schraffur-Albtraum aus persönlichen (Lebens)Erfahrungen, Gesellschaftskritik, Pornografie, Religion und Popkultur.
Im Film kommt er selbst durchgehend zu Wort, ebenso seine zwei Brüder, die nicht weniger verrückt sind. Man sieht ihn Klavier spielen, seine Schellackplattensammlung genießen, dem Sohnemann beim Zeichnen helfen und natürlich selbst zeichnen, zeichnen und noch mehr zeichnen.

14. März 2012

CARRIE

Brian De Palma (USA, 1976)
Die Geschichte um die junge Carrie, die durch ihre religiös-fanatische Mutter ein völlig verzerrtes Weltbild aufgedrängt bekommt, hat in gewisser Weise Parallelen zu der Figur, die Sissy Sapcek auch in Robert Altmans "Drei Frauen" verkörperte. Auch dort ist sie eine schüchternes, verklemmtes Mauerblümchen, das eine komplette Wandlung durchläuft, bloß endet das in "Carrie" mit einem apokalyptischen Szenario, wo sich die Protagonistin, die als Sündenbock und Witzfigur hin und her geschubst wird, mit ihren thelekinetischen Fähigkeiten in einem dämonischen Rachefeldzug an ihren Peinigern rächt.
Der junge John Travolta hatte hier auch seine Paraderolle als Highschool-Badboy, der das Schwein schlachtet und den mit Blut gefüllten Eimer in der Veranstaltungshalle des Schul-Abschlussballs schmuggelt. Was danach passiert ist Filmgeschichte und ein radikaler, genre-übergreifender Bruch, der nach dem Teenager-Film und Mutter/Tochter-Konflikt das Horror-Genre wie im Bilderbuch entfaltet. Die jungfräuliche Duschszene am Anfang, die zu Carries Monatsblutung führt, gipfelt im blutigen Höhepunkt des Finales. Eine junge Frau, der man beim Reifungsprozess Hürden in den Weg stellte, und die voller Zorn zurückschlägt.
Entweder nicht gewusst, vergessen oder eher doch verdrängt, dass De Palmas Film eine Stephen King-Verfilmung ist. Dieser Fakt hebt in auf dem Qualitätspodest noch etwas höher, weil es scheinbar doch möglich ist, aus Kings fragwürdigen Geschichten einen vernünftigen Film zu machen. (Kubricks Ausnahmeleistung auf diesem Gebiet müssen wir nicht mehr erwähnen).

8. März 2012

ICH KÄMPFE UM DICH

Alfred Hitchcock (USA, 1945)
Und wieder mal spannende Zutaten aus der Hitchcock-Küche: Ingrid Bergman, Gregory Peck, Sigmund Freud, Salvador Dalí schwimmen gemeinsam in einer Suppe, oder doch eher in der Welt des Wahnsinns, in der sich Traum und Wirklichkeit vermischen und wo ein renommierter Psychiater (Peck) an Gedächtnisschwund leidet bzw. eine Mordtat verdrängt und die junge Ärztin (Bergman), ihm aus dem Schlamassel helfen möchte. Doch die Liebe schleicht sich dazwischen, wie könnte es anders sein.
Der Suspence-Meister lenkt noch eindeutiger als sonst seinen Blick auf die Psyche der Figuren; Ingmar Bergman hätte das vermutlich noch eindringlicher inszeniert, bei Hitchcock ist es nichts als ein Auslöser für eine kriminelle Tat, die menschliche Analyse und die des Mordes.
Der Film besticht vor allem durch die von Dali gestaltete Traumsequenz; man bekommt noch mal seine surreale Welt und Symbolik im gewohnten Stil serviert, bloß in Schwarzweiß.
Ansonsten gilt es Gregory Pecks schauderhaftes Geheimnis zu entlüften, etwas was in ihm tief verborgen schlummert und auf ein dramatisches Ereignis aus vergangener Zeit hindeutet. Er bekommt Panikattacken beim Anblick der Farbe Weiß in Verbindung mit dunklen Linien. Da kann natürlich nur Frau Bergman helfen, die mit dem gebeutelten Schönling in die Fußstapfen seiner eigenen Vergangenheit tritt, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
Hitchcock behandelte gerne und häufig das Thema des falschen Verdächtigten, der nur selbst von seiner Unschuld weiß. Hier tappt aber selbst der Beschuldigte völlig im Dunkeln, kennt seinen Namen nicht, weiß nicht, ob er überhaupt etwas verbrochen hat.
Pecks Spiel ist überzogen, wenn er mal wieder einen Anfall bekommt, und der obligatorische Hitchcock-Trash-Moment, über den man sich köstlich amüsieren kann, äußert sich hier in der Skifahrt-Szene von Bergman und Peck, mit rasanter Rückprojektion und unrealistischem Verhalten der beiden.
Ein spannender Augenschmaus voller charmanter Staubschicht.

6. März 2012

DER MANN, DER ZU VIEL WUSSTE

Alfred Hitchcock (USA, 1934)
Hitchcock musste von dieser Thematik so begeistert gewesen sein, dass er im Abstand von 22 Jahren den Stoff gleich zweimal verfilmt hat, um vielleicht die Fehler von früher auszuglätten. Das Remake mit James Steward und Doris Day wurde zwar viel populärer, doch das Original aus den 30ern sollte nicht unerwähnt bleiben, zumal ihn der bloße Vergleich sehenswert macht.
Der wesentliche Unterschied ist, dass Hitchcock in der ersten Version die Handlung in St. Moritz ins Rollen bringt; in der neueren Fassung passiert der erste Plotpoint in Marokko.
Was uns in der 50er-Jahre-Version zusätzlich verwehrt bleibt, ist die Figur des sadistischen Zahnarztes, die im alten Film einen eigentümlichen Charme entwickelt. Man muss einfach schmunzeln: der Zweikampf auf dem Behandlungsstuhl zwischen unserem Protagonisten und dem Arzt, bei dem es dem Familienvater gelingt, den Gegner unter Narkose zu setzen, ist für jemanden wie Hitchcock dermaßen fragwürdig inszeniert, dass man den Film wegen einer solchen Trash-Entgleisung einfach gern haben muss.
Später gibt es dann die berühmte Szene beim Konzert in der Royal Albert Hall, wo während des Becken-Schlags ein Schuss fallen soll.
Anschließend liegt die erzählerische Gewichtung auf der Schießerei zwischen Polizei und der Verbrecherbande (Peter Lorre, ein unglaublich cooler Bösewicht!) und wirkt in seinem Aufwand fast schon wie der Aufstand im Warschauer Ghetto.
Cooler Hitchcock, aber die Neuverfilmung ist auch verständlich.

5. März 2012

STROMBOLI

Roberto Rossellini (Italien, 1950)
Anfang der 50er Jahre kehrte Ingrid Bergman Hollywood den Rücken zu, nach dem sie einige Filme des italienischen Neorealismus-Meisters Roberto Rossellini gesehen hatte. Beide machten während ihrer ersten gemeinsamen Film-Arbeit die italienische Vulkan-Insel Stromboli unsicher; ganz zu Begeisterung der Einwohner, die sich durch die aufregenden Dreharbeiten (und nicht zuletzt durch die noch viel aufregendere Ingrid Bergman!) bis heute gerne an diesen hohen Besuch auf ihrer Insel zurückerinnern.
Bergman spielt eine Litauerin, die im Flüchtlingslager kurz nach dem zweiten Weltkrieg einen aus Stromboli abstammenden Fischer kennenlernt. Beide heiraten um das Lager verlassen zu können und ziehen gemeinsam in das Dorf auf der kargen Insel.
Sie, eine verwöhnte Schönheit, die einen völlig anderen Lebensstandard gewohnt ist, kann sich mit ihrem neuen Heim und Umfeld schwer anfreunden.
Die Insel wird bei Rossellini nicht zum Sinnbild für ein idyllisches Paradies, sondern zu einem psychischen Gefängnis für eine moderne Frau, die mit der Eigenart der Dörfler nicht umgehen kann, genauso wenig wie die Einwohner mit ihr als exotische Fremde und potenzielles Objekt der Begierde. Vergeblich versucht sie sich beim Dorfpfarrer auszuweinen, denn bei ihrem Ehemann, der zwar ein herzensguter Mensch, aber letztendlich in ihren Augen ein tölpelhafter Bauer ist, stößt sie bloß auf Unverständnis.
Unvergesslich bleiben die aufwändigen Szenen vom Thunfischfang der Fischer, und am Ende bricht natürlich der Vulkan aus; pathetische Holzhammer-Symbolik, aber trotzdem zeitlos schön. Mehr ein Musen-Film als Realismus, denn die überwältigende und Landschaft wirkt durchgehend wie eine bedrohliche Kulisse, die Bergman auf kokette Art zum Glänzen bringen soll.
William Dieterle drehte 1 Jahr früher "Vulcano" mit Anna Magnani, bei dem ich mich grade ernsthaft frage, ob er inhaltlich nicht sehr ähnlich war. Vielleicht ist das ein Zeichen, auch diesen Film wieder herauszufischen, oder aber nach langer Neorealismus-Abstinenz, sich grundsätzlich wieder mit dieser Filmgattung zu beschäftigen.

4. März 2012

Alfred Hitchcock Collection

Während der letzten, Streifzüge durch diverse Filmkauf-Anlaufstellen (auch unter dem Alternativtitel "spontane Schnäppchenjagd" bekannt), fiel mir kürzlich diese dicke und gar nicht mal so hässliche Hitchcock-Box in die Hände. Gegen 14,99 € kann man nichts sagen. Ganze 6 Filme sind drin, etwas seltsam zusammengestellt, aber trotzdem genau richtig für meine Bedürfnisse, da mir 4 Filme davon gänzlich unbekannt waren und die anderen zwei die allgemeine Sammlung zusätzlich komplettieren würden. Das Zusatzmaterial kann auch stolz auf sich sein; jeder Film ist mit einer Dokumentation ausgestattet, in der viele Weggefährten und Kollegen zu Wort kommen. Es genügt schon Peter Bogdanovich zuzuhören, dem filmischen Schlaumeier, der scheinbar jeden Film auf diesem Planeten gesehen hat und zu jedem auch etwas zu sagen hat.
Nun zum Inhalt:

Es ging los mit "Ich beichte" (1953) mit Montgomery Clifft als Priester in Quebec, der mit der kirchlichen Schweigepflicht belastet ist als ihm ein Mörder seine Tat als Beichte ablegt. Der Priester wird selbst zum Hauptverdächtigen muss aber schweigen, weil Gott von überall vom Kreuze herabschaut. Er muss sich entscheiden, ob er seiner religiösen Schweigepflicht treu sein möchte, oder ob er seine eigene Haut retten will.
Monty wie immer großartig, wie immer in einer qualvollen Rolle, die ihn wieder so furchtbar angespannt leiden lässt. Dafür kennt und schätzt man ihn. Ungewöhnlicher Hitchcock; fast schon mehr Bergman.

Der zweite Film war dann „Der fremde im Zug“ (1951), der in drei Fassungen vorliegt und bei dem ich mich automatisch für die längste entschieden habe. Wie sich später dank einer Doku herausstellte, verpasste ich aber gerade eine viel bessere Pointe in der allerletzten Schlussszene, was unbedingt noch nachgeholt werden muss. Der Film selbst über den psychopathischen Zuggast (Robert Walker erinnert bisschen an Robert Mitchum in „Nacht des Jägers“), der mit dem Protagonisten einen Mord tauschen will, um auf beiden Seiten die Spuren zu verwischen, überzeugt großteils, vernachlässigt aber stellenweise seine Glaubwürdigkeit durch eine Überladung an optischen und erzählerischen Einfällen. Dennoch bleibt der Zweikampf und Verfolgungsjagd auf einem außer Kontrolle rasenden Karussell, ein attraktiver Höhepunkt, was ein bombastisches Finale ohnegleichen garantiert.

Ein wirklich großartiger Film ist „Der falsche Mann“ (1956); gehört für mich zu den besten Werken des Suspence-Meisters, vielleicht gerade weil er durch seinen "Realismus" so anders ist und zu einer viel intensiveren Auseinandersetzung mit den Charakteren zwingt. Henry Fonda spielt hier den finanziell wackelig dastehenden Nachtclubmusiker und Familienvater, der durch eine Verwechslung fälschlicherweise als Verbrecher identifiziert wird. Das raffinierte an den Plot ist, dass Hitchcock irgendwann diese kafkaeske Kriminalgeschichte beinahe fallen lässt und sich unverschämter weise einer Parallelhandlung widmet, nämlich der psychischen Erkrankung von Henry Fondas Ehefrau, die mit der Tragödie dieser Anschuldigung nicht mehr umgehen kann. Das ist ungewöhnlich und großartig erzählt und gespenstisch in seiner Unmittelbarkeit, von wunderbaren Darstellern getragen.

"Bei Anruf Mord" (1954) gehört zu den bekannteren Filmen in dieser Zusammenstellung, wenn auch für mich nicht gerade zu den besten von Hitch. Ray Milland will hier Grace Kelly (seine Ehefrau) loswerden, nachdem er herausfindet, dass sie ein Techtelmechtel mit einem anderen Mann hat, und Milland eine Scheidung (finanziell) nicht durchstehen würde. Der eingefädelte Plan misslingt jedoch, Grace Kelly kann ihren "Mörder" mit einer Schere erstechen und wir haben einen der schönsten Morde der Filmgeschichte. Der Film ist nach einem Broadway-Stück inszeniert und reduziert seine gesamte Handlung auf die Wohnung des Ehepaars. Das ist zwar eine große Herausforderung, macht ihn aber gleichzeitig sehr geschwätzig und zu einem bis auf die Knochen abgenagten Krimi. Ein Fest für wahre Rationalisten.

Der bekannteste Film in der Box ist mit Sicherheit „Der unsichtbare Dritte“ (1959) und ein krasser Gegensatz zu „Bei Anruf Mord“, was seine Vielzahl an Handlungsorten angeht. Cary Grant gerät hier in Intrigen des amerikanischen Geheimdienstes, in die auch die bezaubernde Eva Marie Saint verwickelt ist. Grant wird von einem Ort zum anderen gejagt, Städte und Landschaften wechseln ständig, Entfernungen werden mit Autos, Bus und Bahn überwunden, irgendwann dann endlich die berühmte Szene mit dem Sprühflugzeug und Cary Grant im Maisfeld, bis man schließlich mit dem Finale am Mount Rushmore belohnt wird, welches komplett im Studio nachgebaut wurde, weil Hitchcock keine Drehgenehmigung hatte, um an dem echten Felsen mit den Präsidentenköpfen zu drehen.
Dank der vielseitigen Handlungsorte gehört der Film zu Hitchcocks vielseitigsten Werke.

Und zu guter letzt schließlich "Die rote Lola" (1950), in dem Hitchcock seine üblichen Mord/Täter-Thematik in die Welt des Theaters verfrachtet. Mit dabei Marlene Dietrich; bereits ihr erstes Auftreten ist spektakulär, wenn man zuerst ihre Beine und ihr blutverschmiertes Kleid zu sehen bekommt. Die blonde Femme Fatale ist damit definiert, die restlichen Darsteller müssen dann zusehen, was sie aus ihren Figuren machen; sie stehen erstmal in Dietrichs Schatten, ganz klar. Der Mordablauf wird dann in einer Rückblende nacherzählt, bis sich der ganze Wirrwarr schließlich enträtselt. Schwächster Film in der Reihe.

Im großen und ganzen ein guter Kauf; perfekt für den Geldbeutel, bloß etwas peinlich, dass jemand wie Hitchcock dermaßen verscherbelt wird. Merkte ich neuerdings wieder, als ich mehrere seiner früheren Filme bei Restposten entdeckte (dazu bald mehr!). Damit ist der gute Alfred nicht nur Meister des Suspence, sondern auch König der Wühltische.

1. März 2012

HAPPY-GO-LUCKY

Mike Leigh (Großbritannien, 2008)
Und wieder ein guter und kluger Film von Mike Leigh. Man steckt ihn gerne in die Komödien-Schublade hinein, auch wenn man hier eher aufpassen sollte, wie man "Happy-Go-Lucky" wirklich kategorisieren sollte, denn tief im Inneren ist es ein erschütternd tragischer Film. Mike Leighs Talent, nicht bloß an der Oberfläche zu kratzen, sondern in unseren Eingeweiden rumzuwühlen, ist Beweis genug, dass es hier um weitaus geht als um flüchtigen Klamauk.
Die Grundschullehrerin, Poppy (Sally Hawkins) steht auf der Sonnenseite des Lebens, immer fröhlich, ein wenig blöd und nervig, aber stets offenherzig gegenüber ihren Mitmenschen. Der Film porträtiert eine junge Frau Anfang 30, die als Sonderling ihrem Umfeld entgegentritt, sei es beruflich, in ihrer Liebesbeziehung, oder wenn sie sich in ihrem Freundeskreis beweisen muss.
Eine wichtige Nebenhandlung sind Poppys Fahrstunden bei ihrem mürrisch-cholerische Fahrlehrer. Er ist ein pragmatischer Realist und Pessimist in einem und die entscheidende Tragesäule für alles Interpretative. In seinen unfreiwillig philosophischen Tobsuchtsanfällen entlarvt er die böse Welt, die dafür verantwortliche Gesellschaft und vor allem Poppy selbst. Er bringt uns aber auch zum Schmunzeln, denn er ist ein eifersüchtiger Lehrer und ein schamhafter Prophet und am Ende doch nur Mensch.
Mike Leigh gibt einem vor allem den Glauben, die British New Wave wäre niemals gestorben.