30. Oktober 2012

DER SCHIMMELREITER

Curt Oertel & Hans Deppe (Deutschland, 1933)
Vor einiger Zeit noch irgendwo auf Sylt unter einem Theodor-Storm-Straßenschild gestanden, dabei zurückgedacht an die alte Schulzeit, als man sich mit der Schimmelreiter-Thematik auseinandersetzen musste, ob man nun wollte oder nicht, und da plötzlich: die Oertel&Deppe-Variante winkt einem entgegen und das ist schön, weil die 80er-Verfilmungen nicht so besonders waren, schlecht und unerträglich sogar, wenn die Erinnerung nicht täuscht.
Doch wenn man bereits in den 30er Jahren die Geschichte um den Deichgrafen Hauke Haiens filmisch bebildert, dann wirkt das schon mal ein wenig authentischer, weil es wenigstens zeitlich ein bisschen näher am Originalwerk ist, auch wenn da immer noch ein halbes Jahrhundert dazwischenliegt.
Die Nordfriesen plagen sich seit Menschengedenken mit der Naturgewalt des Meeres, die Deiche sollen sie schützen, wo sie doch schon vor Alter zerkrümeln und der Boden schon längst von Nagetieren untergraben wurde. Und Theodor Storm ergänzt alles durch einen Spuk, das alte Pferdegerippe, das draußen im Sand und Nebel herumliegt und im Aberglaube der Dorfbewohner zum Leben erwacht. Hauke wird dann auch hinter seinem Rücken als Schimmelreiter bezeichnet, sein Ross hat er vom Teufel, dessen sind sich die Einheimischen ganz sicher. 
Der Deichgraf ist aber vor allem ein Mann der Wissenschaft, der bis tief in die Nacht an seinem neuen Deich herumtüftelt und ihn schließlich auch unter strengem Kommando und fester Überzeugung bauen lässt. Hauke ist eben ein disziplinierter Führer, ein bisschen geheimnisvoll und dämonisch, der mit eisernem Willen seine Ziele verfolgt und auch umsetzt; er hat nicht nur die Leute in seiner Hand, sondern will vor allem auch gegen die Wogen des Meeres ankämpfen. Ein heldenhafter Mann mit klarem Ziel vor Augen; was bleibt einem anderes übrig, als wieder mal die alten Nazis zu erwähnen, die hier kräftig Beifall geklatscht haben mussten; Hauke ist ja auch ein Mann, der später sogar für sein "Volk" in den Tod geht. Aber das ist alles unwichtig, wenn man die Bilder sieht, und die sind wahrhaft groß; Himmel und Wasser dominieren stets den Kamerablick, der Mensch bleibt winzig und unterlegen, auch wenn es die Kamera öfters mal versteht, aus voller Nähe entlang der vielen Dorfgesichter entlangzufahren, was irgendwie ungewöhnlich und innovativ für die damalige Zeit gewesen sein muss. Optisch wird es hier jedenfalls nie langweilig, auch wenn der Film mit dem wuchtigen Finale deutlich abschwächt, weil die Tricktechnik noch in den Kinderschuhen steckte und man das Naturphänomen des Sturmes nicht als ein solches voll und ganz genießen kann.

29. Oktober 2012

DIE SWINGMÄDCHEN

Maurizio Zaccaro (Italien, 2010)
Italien zählt zu den spannendsten Filmländern und doch so lange nichts mehr von dort angerührt, vielleicht weil es in jüngster Zeit nur noch selten am Zuschauer rüttelt. "Die besten Jahre" hat das noch geschafft, aber sonst herrscht so viel filmische Leere, da unten im Stiefel, oder die Italiener fühlen sich unwohl beim Gedanken, dass sie sich in die Neorealismo-Vergangenheit einreihen müssen, dabei müssen sie es gar nicht, es gibt ja immer was zu erzählen, auch nach der schwarzweißen Trümmerzeit und der späteren Fellini-Träumereien.
Maurizio Zaccaro versucht es zumindest und erzählt uns hier mit voller Inbrunst von den aus den Niederlanden stammenden Leschan-Schwestern, die während der Mussolini-Ära als swingendes Trio Lescano große Erfolge feierten. Eine klassische Tellerwäscher/Star-Thematik, und sie schrubben zunächst sogar wirklich jede Menge Geschirr bevor sie als Tänzerinnen entdeckt werden. Die Mädchen werden so populär in Italien, dass sie von Fans und lüsternen Blicken vollkommen umgarnt werden. Sie betreten schließlich das unantastbare Götterpodest, lassen die Herzen des gesamten Volkes erglühen und vor allem die Tristesse der damaligen (politischen) Lage vergessen; eine Illusion fürs Auge und Ohr.
So weit so gut. Der Regisseur hat einen Zweiteiler hingelegt, also kann er sich gemütlich zurücklehnen, man wundert sich auch, dass alles über lange Zeit so glatt läuft und wünscht sich endlich den dramaturgischen Bruch, doch so bald er kommt wird alles durchsichtiger, schwabbeliger, konstruierter. Wenn man von der Musolini-Ära erzählt, kommt man nicht umhin, irgendwann die Schwarzhemden an die Tür klopfen zu lassen. Das Show-Bussinnes wird ja schließlich auch vom Duce mitbestimmt, die drei jungen Frauen müssen sich fügen, politisch angehauchte Veranstaltungen musikalisch aufpeppen, denn was tut man nicht alles, um zu überleben. Dass ihre Mutter jüdische Wurzeln hat, erschwert die Sache zusätzlich und sie geraten schnell ins Visier der politischen Machtführer.
Das könnte alles sehr spannend und interessant sein, und doch schwächt der Film zunehmend ab, je mehr er versucht, das Geschehen von dem Faschismus-Thema zu überrollen, weil er in alte Muster verfällt, auch was Nebenfiguren angeht: die einst Schwachen und Enttäuschten schließen sich den Schwarzhemden an und werden zu Bestien, wohingegen diejenigen, die früher gute Positionen hatten im neuen Regime in Sackgassen geraten. Die wirkliche Bedrohung ist dann auch oft kaum spürbar, weil in dem Film zu viel brav gelächelt wird und er sich ständig bemüht, die Leschan-Schwestern von der glanzvollsten Seite darzustellen und der Faschismus damit beinahe zu einer musical-artigen Hintergrund-Kulisse degradiert wird.

24. Oktober 2012

LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT

Werner Herzog (Deutschland, 1971)
Werner hat es sich bisher bei keinem Thema leicht gemacht, sondern schüttet sich selbst tonnenweise Steine auf den Weg. Daran lässt sich aber auch die Qualität seiner Arbeit abmessen. 
Bei diesem Film scheinen die selbst aufgestellten Hürden sogar noch höher zu liegen; die Welt der Taubblinden steht hier im Mittelpunkt, er schafft es tatsächlich sich diesem schwierigen Thema anzunähern, eine Kommunikation aufzubauen, sogar eine Protagonistin zu ernennen, die trotz ihres tragischen Schicksals, das sie seit Kindheit erdulden muss, nie das Sprechen verlernt hat und uns viel über sich und ihre Leidensgenossen zu erzählen hat, denen sie im Verlauf des Filmes begegnet. Das ist auch vermutlich das Interessante an dem Film, nämlich der ständige Versuch einer Kontaktaufnahme zwischen der Hauptfigur und der anderen Taubblinden, die von Fall zu Fall unterschiedlich darunter leiden, sich oftmals sogar in ihrer eigenen Gefangenschaft vom "Menschsein" zu entfernen scheinen, bzw. bereits auch von Geburt an in völliger Isolation leben mussten, ohne jemals in der Lage gewesen zu sein, das Lorm-Alphabet zu erlernen, um durch Ertasten der Handinnenfläche mit anderen Menschen zu kommunizieren.
Aus der Reihe wichtiger Filme, über die man sich Gedanken machen sollte, steht dieser ziemlich weit vorne, auch wenn er sich, im Gegensatz zu anderen Herzog-Dokus, relativ unauffällig in seine Filmografie einzureihen scheint.

23. Oktober 2012

BLUE VALENTINE

Derek Cianfrance (USA, 2010)
Die Welt oder zumindest Hollywood braucht mehr Charakterfilme, so viel ist sicher. Was früher während der New Hollywood-Phase an ausgefeilten Beziehungsdramen an die Oberfläche kam, lässt sich am heutigen Stand fast an einer Hand abzählen.
Derek Cianfrance (nie gehört!) schafft das aber mit Leichtigkeit. Ein Kino, das nicht nur von seinen beiden Darstellern getragen, sondern gleich mitgerissen wird.
Er erzählt uns von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams); mit der Nennung beider Figuren wäre auch schon das komplette Thema umkreist, wäre es bloß nicht so verdammt schwierig, weil der Regisseur ihre Beziehungsgeschichte zeitlich zerstückelt, hin und her springt zwischen anfänglicher Harmonie und den Gefühlstrümmern einer tragischen Spätphase, die kein Happy End prophezeit.
Das ist eine so simple Geschichte, dass man kaum auf den genauen Inhalt eingehen muss, um sie nachzuvollziehen, und doch ist sie so furchtbar komplex und malträtiert ihre beiden Darsteller bis aufs Äußerste. Trauer ohne filmisches Wehleiden, Schmerz ohne weinerliche Taschentuch-Kino-Tendenz.
Und wie sehr der Film von seinen Darstellern lebt verdeutlicht vielleicht nichts so gut, wie die Szene als Dean angetrunken in der Klinik auftaucht, um seine Frau zu sehen, zuerst einen Streit mit ihr und schließlich mit einem Arzt beginnt, bis schließlich nicht nur Tränen fließen sondern beinahe auch noch Fäuste fliegen. Selbst die Kamera hat irgendwann genug davon, weil sie dann auf einmal lieber draußen bleibt und das Geschehen stumm durchs Fenster beobachtet.
Ein tieftrauriges Werk über Menschen, die sich gegenseitig auf ihrem stets pulsierenden Organ herumtrampeln. Oder kurz gesagt, ein Film über Menschen.
Und wenn Williams & Gosling einem nicht genügen, kann man noch etwas genauer hinhören und erkennt wie beinahe das gesamte Drama von der New Yorker Band Grizzly Bear zusammengehalten wird.

DAISIES

Věra Chytilová (Tschechoslowakei, 1966)
"Dasies" das ist mal nach langer Zeit wieder ein wirklicher Film fürs Auge; es ist so schwer ihn zu bändigen, ihn in die Enge zu treiben, brauchbare Sätze darüber zu formulieren.
Es geht um die fabelhafte Welt von Marie (blond = Ivana Karbanová) und Marie (brünett = Jitka Cerhová), bzw. das, was sie aus der uns vertrauten Welt machen, wie sie von den Gören (neu)interpretiert wird. Denn die beiden Maries haben kein Bock auf das Normale, Konventionelle, stellen lieber alles auf den Kopf, zerschnippeln ihren Alltag, um ihn puzzleartig  zusammenzusetzen, bis etwas neues, skurriles dabei herauskommt. Und von diesem Konzept scheint der Film selbst ebenso angesteckt zu sein, weil er nur so bebt und explodiert vor lauter surreal-symbolischer Einfälle, als würde er sich selbst in Schutt und Asche legen wollen.
Viel mehr muss man auch nicht sagen, seine eigenen Bilder erklären viel deutlicher, was er in seinen Form- und Farb-Fetzen erzählen möchte.

ALLES, WAS WIR GEBEN MUSSTEN

Mark Romanek (Großbritannien, 2010)
Mark Romanek scheint ja bisher vor allem ein fleißiger Musikvideo-Director zu sein, sonst gab's es noch "One Hour Photo" als akzeptablen Film.
Mit dieser Ishiguro-Verfilmung lässt er einen jedoch etwas kopfschüttelnd dastehen. Die Geschichte hat dabei so viel Potential: Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield stecken hier in einem englischen Internat, alles scheint erstmal normal zu sein, ein bisschen streng und muffig, wie das eben immer so ist, die ersten Liebeleien und Eifersüchteleien entwickeln sich, die Kids sind verträumte Seelen, die voller Spannung auf das Leben danach blicken. 
Und an dieser Stelle schleicht sich plötzlich das Drama hinein, das sogar Sci-Fi-Ausmaße annimmt: eine junge Lehrerin verrät nämlich den Schülern den eigentlichen Zweck des Internatsaufenthalts. Alle Kinder sind in Wirklichkeit Klone, denen das gleiche Schicksal bevorsteht: sie sollen zukünftig als Organspender dienen, eine eigene Zukunft haben sich nicht. Mit 18 verlassen sie das Internat und leben in sogenannten Cottages, in den umliegenden Orten, wo sie auf den Zeitpunkt ihrer Spende warten.
Die Tragödie und die Bedrohung sind also allgegenwärtig und doch nicht wirklich spürbar. Woran das wirklich liegen mag lässt sich auch schwer festmachen. Vielleicht an dem mangelnden Tatendrang der drei Figuren, denen zwar ihr vorprogrammiertes Schicksal große Kopfzerbrechen bereitet, es aber von ihnen zu offenkundig hingenommen wird, so dass sie lediglich mit traurigen Gesichtern durch die Gegend dackeln, statt aktiv etwas dagegen zu unternehmen. Größtes inhaltliches Manko ist der Aspekt der Gefangenschaft und Abhängigkeit, der mit dem Verlassen des Internats zunehmend verwässert wird, weil die Gefahr kaum noch personifiziert und greifbar ist. Der Film arbeitet mit so vielen Landschaftsaufnahmen und endlosen Weiten, dass man sich permanent fragt, warum die Drei nicht einfach weglaufen, wo sie sich doch eh frei bewegen können. Der weinerliche Off-Kommentar von Mulligan raubt der Geschichte schließlich den letzten Funken Geheimnis. Als würden dem Film selbst paar wichtige Organe fehlen.

TOTE TRAGEN KEINE KAROS

Carl Reiner (USA, 1982)
Diese Film Noir-Blödelei von Steve Martin und Carl Reiner (man muss beide in einem Zug nennen, weil Martin auch am Drehbuch beteiligt war), lief vor einiger Zeit im TV, machte mich neugierig in den wenigen gesehenen Szenen, weil man an so vieles zurückerinnert wird und jetzt zu großer Freude, bekommt man den Film tatsächlich hinterhergeschmissen.
Die Herzen beider Männer schlagen ganz eindeutig für den amerikanischen Kriminalfilm der 40er-Jahre, eine Hommage war also mehr als hinfällig, doch sie packen es mit Humor an und versammeln hier endlose Zitate aus jener Zeit, um an die alten Trenchcoat-Träger und hinterlistige Diven zu erinnern.
Der Plot ist mehr als wirr und verrückt, alles dreht sich hier letztendlich um Schimmelkäse und eine Horde Nazis als Übeltäter, die mal wieder die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Doch bis sich dieser Fall überhaupt aufklärt und in gewohnter Film Noir-Manie in der Finalszene von Gut & Böse mit vielen Worten enträtselt wird, muss Steve Martin als Privatdetektiv erst mal hinter all den Schlamassel kommen, über Leichen stolpern, jeden Schwarzweiß-Winkel dieses Films nach Hinweisen absuchen (zumindest so tun) und mehrmals in den gleichen Arm angeschossen werden. An seiner Seite ist stets seine attraktive Klientin und die obligatorische Femme fatale Juliet (Rachel Ward, noch kurz vor den Dornenvögeln). Einer der Running Gags ist dann ihre Gabe, Pistolenkugeln aus seinen Wunden heraussaugen zu können.
Der Film wäre aber nicht dieser Film, wenn er nicht hauptsächlich von der Idee leben würde, seine Handlung durchgehend durch Original-Szenen alter Kriminal- und Film Noir-Klassiker zu zerstückeln. Oder besser gesagt: er wirkt sogar, als wäre die Geschichte auf diese Szenen angepasst worden, weil Steve Martin in cleveren Filmschnitten plötzlich mit Barbara Stanwyck, Ava Gardner, Burt Lancaster, Humphrey Bogart, Cary Grant, Ingrid Bergman und vielen anderen konfrontiert wird. Der Film ist in s/w gedreht, also fügt sich alles optisch gut zusammen; eine tiefe Verbeugung noch vor dem Dekor, dem Production Design und den Kostümbildern, die diese visuelle Einheit erst ermöglicht haben.
Klamauk bleibt es trotzdem. Der oft absurde Humor wirkt dann oft mehr kindlich aufdringlich als, dass er im Dienste einer gut durchdachten Satire stehen würde. Trotz optischer Raffinesse ein Werk, das sich rasch abnutzt, aber immerhin wieder Lust auf die Originale macht, vor denen er sich auf vergnügliche Weise vebeugt.

16. Oktober 2012

KINDER DES OLYMP

Marcel Carné (Frankreich, 1945)
Marcel Carné, einer von den Filmemachern, die ihr Herz nach außen tragen und unter lautem Pochen und Hämmern Wunder vollbringen. Zugegeben: mittlerweile zugestaubte Wunder, wie eben dieser Film, den man nur schwer von seiner Staubschicht befreien kann, dessen Qualität und Reiz schon museale Züge trägt; er ist wie ein altes Schwarz-Weiß-Bilderbuch, eine filigrane Süßigkeiten-Schachtel aus dem Oma-Cafe und doch lebt und atmet er immer noch weiter, dank Baptiste, der Pierrot-Pantomime, weil er den ganzen Film mit sich reißt, in dem er auf der Bühne schweigt und doch so viel sagt.
Aber eigentlich dreht (und versammelt) sich alles um die Schauspielerin Garance, die gleich von mehreren, sehr unterschiedlichen Männern umzingelt wird. Carné schafft hier eine Liebesgeschichte in ihrer reinsten Form, in großen Gesten, provozierte damals sicherlich manch ein verweintes Auge, gar triefende Nasen, der Kitsch ist zum Greifen nahe, doch man verzeiht dem Regisseur, weil er sich durchgehend das Motiv zu Nutze macht, das Leben selbst sei eine große Bühne. Und die Männer schaffen es eh nicht, an das Herz von Garance zu gelangen, diese Gauner, Schauspieler, Grafen und Pantomimen; sehen ihr eigenes Scheitern ein und suchen eher nach Möglichkeiten, wie sie sich wieder von ihr lösen könnten.
Die Zeit verstreicht, das Karusell dreht sich weiter, Garance gibt zu, dass sie schon immer Baptiste liebte, und dieser ist ganz hin- und hergezerrt, weil er längst verheiratet ist und einen Sohn hat, doch Garance erscheint wieder vor ihm und die alte Liebe entflammt, auch wenn er sie doch nicht bekommen kann, weil er im Getümmel der Karnevalisten untergeht, während sie in der Kutsche davonfährt und der Vorhang endgültig fällt.
Das ist die detailverliebte Arbeit eines Film-Stuckatuers und ein interessantes Zeitdokument zugleich, wie etwas derartig aufwändiges überhaupt zur damaligen Zeit entstehen konnte, wo doch das von den Nazis besetzte Frankreich unter finanzieller und menschlicher Not zu leiden hatte, alles strenger Überwachung und Zensur unterlag und selbst die im Film reich gedeckten Essenstische einfach leergegessen wurden. Aber Baptiste bleibt in all den menschlichen Trümmern eine Filmfigur für alle Ewigkeiten.

11. Oktober 2012

DIE HÖRIGE

Alf Sjöberg (Schweden, 1944)
Sjöbergs Film hat das Privileg, sich in die Bergman-Edition einreihen zu dürfen, deswegen nimmt man ihn auch überhaupt wahr, aber er basiert ja auch auf dem Drehbuch des großen Schwedens und gehört somit zu seinen ersten Gehversuchen, bleibt bloß die große Frage offen, ob der Film besser geworden wäre, hätte man den damals filmisch unerfahrenen Ingmar auf den Regiestuhl gelassen.
Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht der gefürchtete und verabscheute Lateinlehrer Caligula, der seinen Schülern tagtäglich die Ohren langzieht und sich mit seinem Rohstock den nötigen Respekt verschafft. Keiner kommt um ihn herum, keiner wird verschont, jeder wird von dem sadistischen Lehrer bloßgestellt und entwürdigt. Jan-Erik gehört auch zu den bevorstehenden Abiturienten, auch sein Leben wird ihm schwer gemacht, er sucht Zuflucht bei seiner Freundin Bertha, die jedoch sogar nachts von Caligula heimgesucht wird, bis sie eines Tages von Jan-Erik tot aufgefunden wird.
Bergman & Sjöberg schlagen hier gleich mehrere Fliegen mit einer Klatsche: die erzieherischen Maßnahmen werden an den Pranger gestellt, weil die Jugend schweißgebadet ackert, jedoch mit geringem Erfolg, weil das Schulsystem eine unüberwindbare Hürde darstellt, die sie lediglich krank ins Bett zurückwirft, so dass schließlich der Hausarzt den absurden Wahnsinn des Leistungsdrucks zerpflücken muss, während sich die Eltern auf die Seite der Lehrkräfte stellen. Gleichzeitig schwenkt der Symbolgehalt der Caligula-Figur zur damaligen politischen Situation und soll angeblich Züge von Heinrich Himmler tragen. Am Ende ist der herrische Lateinlehrer nichts als ein kleines Häufchen Elend, der an Einsamkeit und Mangel an Liebe leidet und dies nur überwindet, wenn er nach außen den eisernen Sadisten raushängt. Und schon gibt es etwas, was man wieder hinterfragen könnte, was die ganze Sache zeitlos macht. Wäre sich der Film bloß nicht selbst im Weg, weil er sich so vieles vornimmt. Aber hier tat die Bergman-Bestie ja erst ein verschlafenes Auge auf, bevor sie anschließend erwachte und jahrzehntelang auf uns losgelassen wurde.

4. Oktober 2012

GEORGE HARRISON: LIVING IN THE MATERIAL WORLD

Martin Scorsese (USA, 2011)
Martin Scorsese hat ja mittlerweile reichlich Musik-Dokumentationen in seinem Gesamtwerk angesammelt, er holt sich dann auch gleich die ganz großen vor die Linse (The Band, Dylan, Stones, etc), bzw. sammelt historische Film-Schnippsel, schaufelt sie zusammen, recherchiert zusätzlich und fügt alles puzzleartig aneinander, bis am Ende tatsächlich wieder ein guter Scorsese-Film entsteht, der sogar oft so manch einen seiner Spielfilme in den Schatten stellt.
Sein George Harrison-Film kann sich da ohne Weiteres einreihen. Um die Beatles kommt man nicht drumherum, wozu auch, er war nun mal einer, der Fokus liegt trotzdem auf George, er ist ja neben Lennon vermutlich die farbenfrohste Figur unter den phantastischen Vier aus Liverpool, alleine seine lebenslangen, spirituellen Ausflüge und das Indien-Faible bietet reichlich Erzählstoff; er war ja schließlich einer der ersten, der diese beiden Welten vor allem musikalisch zusammenbrachte und sie auch in der europäischen bzw. westlichen Kultur gekonnt einzubringen verstand. Irgendwann dominiert zwar dieses Thema den gesamten Film, aber vermutlich dominierte es genauso Georges Leben. Man schmunzelt weil die Beatles unnachgiebig versuchen, in weiten Gewändern die totale Erleuchtung zu finden und in Tv-Talkshows über ihre Methoden der befreienden und bewusstseinserweiternden Gehirnakrobatik diskutieren. Das mit der Sitar hat Harrison ja dann doch wieder aufgegeben, trotz vieler Lehrstunden bei Großmeister Ravi Shankar; Harrison war am Ende eben doch ein Rockmusiker und ein Mann des Abendlandes. Interessant ist, dass der Mord an Lennon fast schon zur Nebensache wird, wohingegen der versuchte Mord an dem bereits an Krebs erkrankten Harrison in kleinsten Details von Olivia Harrison nacherzählt wird. Es geht hier eben um George und nicht um John.
Ringo, McCartney und Ono kommen natürlich auch oft zu Wort, der erste witzelt immer noch viel herum, kämpft aber dann doch mit den Tränen, als es um den endgültigen Abschied von seinem Bandkollegen und guten Freund geht.
Harrisons Solo-Karriere wird aufgerollt, Clapton erzählt wie er sich damals in die Ehefrau des Beatle-Gitarristen verguckte und irgendwann sitzen wir mit dem alten George Martin und Harrisons Sohnemann am Mischpult und entdecken bis dahin ungehörte Gitarrenspuren bei "Here come's the Sun". Solche Momente, oder auch die vielen George-mit-Ukulele-Szenen (er hat die Zwergengitarren scheinbar wirklich überallhin mitgeschleppt), machen das Gesamtpuzzle um so detailreicher und interessanter; schade bloß, dass der Film am Ende so düster im Nichts erlischt.

LIEBE

Michael Haneke (Frankreich, Deutschland, Österreich, 2012)
Haneke macht es uns wieder nicht leicht, aber in gewisser Weise zugänglicher als sonst. Diesmal müssen wir uns nicht mit psychopathischen Jugendlichen rumschlagen, Endzeitstimmungen ausharren, uns von Unbekannten per Video überwachen lassen oder uns im schwarzweißen Fontane-Deutschland rumkommandieren lassen. Heiter und sonnig ist es trotzdem nicht und wird es auch niemals sein und das ist auch gut so, denn jemand muss schließlich auch in die Abgründe hinabschauen.
Trintignant (alt ist er geworden, der Gute!) soll für Haneke der eigentliche Antrieb für dieses Projekt gewesen sein. Gut, dass der inzwischen erheblich gealterte Schauspieler zugesagt hat. Haneke baut also die Wohnung seiner eigenen Eltern nach, um sich am Set wohlzufühlen und mit der Location vertraut zu sein. Bei dem Musikprofessoren-Ehepaar Anne (Emmanuelle Riva, kennt man hauptsächlich als junge Frau in "Hiroshima mon amour") und Georges (Jean-Louis Trintignant) geht es zwar nicht um das Schicksal seiner eigenen Eltern, aber durch die örtliche Nähe, die sich der Regisseur selbst erschaffen hat, kann er wenigstens sicherstellen, dass die Wohnung zum eigenständigen Charakter wird. Die gesamte Handlung nistet sich dort ein und lässt uns selten heraus, bezieht lediglich ein paar wenige Außenstehende mit ein, wie etwa die Tochter (Isabelle Huppert) der beiden Musiker-Senioren.
Annes Krankheit beginnt mit ihrem katatonischen Anfall während des Frühstücks. Ein tragisches Ereignis, das dennoch zu einem prägenden Filmmoment führt, als Georges versucht, sie aus dem tranceähnlichen Zustand zu erwecken, während er ihr Gesicht mit beiden Händen umklammert und auf sie einredet. Das ist der Startschuss zum Leidensweg. Anne erleidet einen Schlaganfall, muss eine erfolglose Operation über sich ergehen lassen und kommt halb gelähmt im Rollstuhl wieder nach Hause. Pflegerinnen kommen und gehen, Georges versucht die Situation alleine zu bewältigen, die beiden isolieren sich zunehmend von der Außenwelt, doch er möchte sie um nichts in der Welt ins Krankenhaus abliefern, sondern bis zum Ende an ihrer Seite bleiben. Liebe bis zum bitteren Ende und auch darüber hinaus.
Was nach einem weinerlichen RTL-Fernseh-Drama für ewig schniefende Taschentuch-Hausfrauen klingt, distanziert sich jedoch von einer solchen trivialen Zielsetzung. Haneke analysiert vor allem den Umgang mit der Krankheit, blickt also auf Georges, der sich in Tagträume flüchtet, in die Erinnerung an alte Zeiten und an Halluzinationen, alles sei wieder (bzw. immer noch) in bester Ordnung.
Doch Anne verliert zunehmend die Kontrolle über ihren Körper und Geist, die Kommunikation wird schwieriger, bruchstückhafter. Ihr Mann nimmt das alles tapfer hin bis zum schockierenden Höhepunkt, den man nicht verraten darf, in dem Hanekes Handschrift auch diesmal spürbar wird, weil er plötzlich provoziert und wichtige Fragen stellt. Das erwartet man schließlich auch von ihm, wo er sich bis dahin lediglich in leisen Schritten dem Martyrium des Leidens und des langsamen Verfalls nähert.

DIE FLIEGE

David Cronenberg (USA, 1986)
Und dann kam ja noch Cronenbergs Fliege dazwischengeflogen, schon beinahe vergessen, habe es tatsächlich geschafft, diesen Film bisher nie zu sehen.
Die alte Fassung von Kurt Neumann ging mit dem Thema etwas anders um, hielt sich vielleicht mehr an die Vorlage, wer weiß. Bei Neumann jedenfalls geht der Teleportationsversuch des Wissenschaftlers Brundle natürlich auch in die Hose, weil sich im Zielgerät eine Fliege einnistet, doch führt das lediglich dazu (lediglich ist gut!), dass die Köpfe beider Lebewesen (Mensch und Fliege) ausgetauscht werden.
Cronenberg geht weiter: Brundle mutiert schrittweise ganzkörperlich zur selbsternannten Brundlefliege, weil die DNS beider Geschöpfe verschmilzt. Zunächst fühlt er sich wie neugeboren, weil ihm die Verwandlung übermenschliche Kräfte verleiht, doch nach und nach nimmt die Metamorphose monströse Züge an und da hat seine Freundin, die Journalistin Veronica (Geena Davis) natürlich auch keine Lust mehr auf Brundle in seiner neuen Erscheinung. Als wäre das schon nicht genug, ist sie auch noch von ihm schwanger, ein Grund besorgt zu sein und die Geschichte in neue Sphären zu lenken. Sie versucht sich immer mehr von Brundle zu distanzieren, der mit dem Menschsein kaum noch etwas zu tun hat, der Verwandlungsprozess geht immer weiter und der Film gipfelt in dem irrsinnigen Vorhaben, das Brudle-Monster, Veronica und ihr Ungeborenes zu einer gemeinsamen, neuen Lebensform zu verschmelzen, doch glücklicherweise bleibt uns das verwehrt. Der Film schmeißt uns die großen Fragen entgegen, über den Menschen, der mit seinen Experimenten zu weit geht, der Gott spielt, der sein Leben und sich selbst perfektionieren will, der in seinen Genen herumstochert, der in diesem Fall vor allem anders ist und von der Gesellschaft ausgestoßen wird. Gena Davis vergleicht das im Interview mit dem Mitleid, das man einem krebskranken Angehörigen entgegenbringt, ob man sich mit einer solchen "Last" noch abgeben will und wie man vor allem damit umgeht, wenn man von einem kranken Mann geschwängert wurde. Eine heikle Interpretation für eine Geschichte mit einem bereits dermaßen bitteren Nachgeschmack. Doof und verrückt ist das alles, aber in seiner 80er-Jahre-Muffigkeit recht unterhaltsam.

RIFF-PIRATEN

Alfred Hitchcock (Großbritannien, 1939)
Das man so etwas noch erleben darf: ein Piratenfilm von Hitchcock, so nenne ich seine erste du Maurier-Verfilmung jetzt einfach, ("Rebecca" folgte direkt danach) weil es ja auch einer ist, bis auf den kleinen Unterschied, dass er mit der Mary (Maureen O’Hara) eine für ein solches Genre viel zu ausgetüftelte Frauenfigur vorweisen kann, die nicht einfach nur hübsch anzusehen ist und von Edelmännern gegen säbelschwingende Raufbolde beschützt werden muss, sondern selbst tatkräftig ins Geschehen eingreift.
Es ist nämlich so: Mary ist eine Waise, kommt nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrem Onkel & Tante nach Cornwall, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die beiden führen in dieser ungemütlichen, felsig-stürmischen Umgebung eine Gastwirtschaft mit dem Namen "Jamaica Inn", ein beliebter Versammlungsort für üble Visagen, eine Piratenbande, deren Anführer kein geringerer als Marys Onkel Joss ist. Die Bande hat sich darauf spezialisiert, vorbeikommenden Schiffen falsche Leuchtsignale zu senden, sie stranden zu lassen, auszurauben und die gesamte Mannschaft zu ermorden. Die Fäden werden vom Friedensrichter Pengallan (Charles Laughton) gezogen; ein herrischer, selbstverliebter Lebemann und heimlicher Oberboss der Strandpiraten, der sich durch die kriminelle Schandtaten ein Luxusleben sichern konnte. Und man merkt gleich, wie aufdringlich dominant Charles Laughton in diesem Film ist, eine theatralische Karikatur seiner selbst. Hitchcock war diese Zusammenarbeit zuwider, aber der Film war ja auch ein Schnellschuss, kurz bevor der Vertrag mit O. Selznick dem Suspence-Meister die Tore zu Amerika/Hollywood öffnete.
Mary sperrt jedenfalls Ohren und Augen auf und merkt schnell, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, kann später sogar das trügerische Signalfeuer am Strand bändigen und ein Schiff vorm Untergang retten und einer der Piraten erweist sich als Regierungsagent (die Liebesgeschichte in diesem Film!), was durch die Doppelbödigkeit doch wieder Hitchcock erahnen lässt und nicht vollständig in einem abenteuerlichen Kostümschinken abdriftet, der mehr an den Anfangsteil von Stevensons "Schatzinsel" erinnert, als an die Handschrift des guten alten Alfred H.