30. Juli 2013

IMMER ÄRGER MIT HARRY

Alfred Hitchcock  (USA, 1955)
Hier haben wir das ewige schwarze Schaf unter den Hitchcock-Filmen, weil es sich so schwer in sein Gesamtwerk einordnen lässt. Selbst solch großen Männer wie Chabrol und Rivette waren verwirrt, als sie in ihrem Hitchcock-Buch versucht haben, den Film und ihren Lieblingsregisseur zu retten, in dem sie sich auf die poetische Aussagekraft der ländlich-herbstlichen Idylle stützten.
So blöd ist der Film aber gar nicht, wenn man ihn nach Jahren wiedersieht. Natürlich hat er seine Originalität der markanten Jahreszeit zu verdanken, der sonnigen Landschaften, der frischen Luft und dem goldenen Laub. Wo Hitchcock sonst so gerne seine Opfer im Tumult großer Städte bluten lässt, nutzt er hier gerade jenen Kontrast der ausgewogenen Idylle, in die er seine Leiche hinlegt. Und sie blutet noch nicht mal. Zumindest kaum.
Harry ist ein von Anfang an passiver Filmcharakter, ein liegendes Geheimnis, von dem man erstmal nichts weiß, über den verschiedene Kleinstadtbewohner buchstäblich stolpern, weil er da am Waldrand im toten Zustand einfach nur herumliegt. Harry ist beinahe schon mehr Gegenstand als Mensch. Er ist allen bloß im Wege und wird einmal vergraben, um im nächsten Moment wieder ausgebuddelt zu werden. Er ist aber auch das Bindestück zwischen den einzelnen Figuren und der Auslöser für allerlei Geheimniskrämereien, die langsam aber sicher ausgeplaudert werden. Er lässt die Dorfbewohner über sich selbst grübeln, denn plötzlich fühlt sich jeder aus einem ganz persönlichen Grund für Harrys Tod verantwortlich. Er ist nicht nur die Leiche im Wald, sondern auch die Leiche im Keller.
Und der Film wird durchgehend von seiner Gemütlichkeit getragen, seinem bösen Humor, der ihn tatsächlich zum "englischsten" von Hitchcocks amerikanischen Filmen macht, wenn etwa der kleine Sohn von Jennifer (Shirley MacLaine in ihrer ersten Rolle!) ein totes Kaninchen als Tauschgegenstand für Süßkram einsetzt, oder wenn man die Harry-Leiche einfach nur liegen sieht, mit ihren bunten Socken an den Füßen, weil die Schuhe längst von einem Landstreicher entwendet wurden.
Eine Kleinstadt-Groteske, oder ein Kammerspiel unter freiem Himmel und damit vielleicht jener Hitchcock-Film, der durch seine formale und inhaltliche Reduktion am deutlichsten an den Theatertüren anklopft.

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