5. Juli 2011

NACKT

Mike Leigh (Großbritannien, 1993)
Mike Leighs "Another Year" ist ja eine Sache, aber sein "Nackt" ist ja noch ein weiterer Schritt oder sogar ein gigantischer Sprung in den Abgrund. Dieser Regisseur scheint jedenfalls jemand zu sein, der während Englands sorgenloser Tea-Time lieber am Tisch ruckelt, um den Inhalt der Tassen auf den makellos gedeckten Tisch zu verschütten.
David Thewlis lernte ich vor Jahren als Paul Verlaine in "Total Eclipse" kennen und schätzen, sah ihn anschließend in einigen mehr oder minder guten Nebenrollen und wünschte mir, ihn endlich mal wieder in einer überzeugenden Hauptrolle zu sehen. Dabei war "Nackt" immer allgegenwärtig, bloß zusammen mit Mike Leigh ein unentdecktes Territorium.
Nun habe ich hier meinen lang erhofften David Thewlis, wahrscheinlich in dem besten Film, der ihm passieren konnte. Als Johnny schlendert er durch die (meistens nächtlichen) Straßen von London, immer auf der Suche nach einer Bleibe und einem geduldigen Zuhörer. Er zankt sich mit seiner Ex-Freundin, ihren Mitbewohnerinnen und jedem, der ihm in der Stadt über den Weg läuft. Sein Sarkasmus dreht jeden Satz seines Gesprächspartners durch den Fleischwolf und belächelt dabei bereits dessen Eloquenz, bevor er schließlich auch den Inhalt seziert. Er zwängt jedem seinen ausweglosen Nihilismus und seine pessimistische Weltsicht auf, bombardiert seine erwählten Zuhörer mit finsteren Prophezeiungen oder schockierenden Fakten, die er zu jedem Lebensthema wie aus dem Hut herbeizaubert. ("Egal wo man sich in London aufhält; man ist ständig 10 Meter entfernt von einer Ratte").
Und auch wenn er am Ende die Konsequenzen seines Auftretens und seines Menschenumgangs tragen muss, ist er letztendlich das Opfer eines Mike Leigh-Films, der lauter Fragen aufwirft und seinen Film bloß mit einem schmerzenden Humpelbein ins Nichts hinauslaufen lässt; wie unseren Held Johnny. Der Weg ist noch lange nicht zu Ende und muss weiterhin bewältigt werden, aber mit einer Wunde mehr.

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