14. Januar 2013

DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN

Jacques Audiard (Frankreich, Belgien, 2012)
Jacques Audiard ist verantwortlich für diesen wirklich guten Film über die zwei körperlichen und seelischen Krüppel, die stets aneinander zerren, sich aber zu ergänzen wissen. Stéphanie (Marion Cotillard, schon wieder großartig!) war Orcawal-Trainerin, verliert bei einem schweren Arbeitsunfall ihre Beine und wird in eine völlig neue Lebenslage katapultiert.
Ali (Matthias Schoenaerts) ist der dick gepanzerte Muskelberg, der sich neben seinem Job im Sicherheitsdienst, ein paar Scheine bei illegalen Box-Kämpfen dazuverdient, lieber also die Fäuste sprechen lässt und somit öfters seinen kleinen Sohn vernachlässigt und bei Frauen-Themen vordergründig seinen Trieben folgt als einem tieferen Gefühl. Meint man zumindest erstmal: Dass es auch anders kommt und er Seiten von sich zeigen kann, in denen er aufzutauen scheint, wird man dann auch feststellen dürfen.
Sein Hauptaugenmerk legt der Film auf  Stéphanis dramatisches Schicksal, ihren persönlichen Umgang damit, ihre neue Lebenssituation, ihre anfängliche neue, finstere Welt aus zugehängten Fenstern und wie sie schließlich mit Alis Hilfe immer mehr Licht in diese Welt hereinlässt, so dass der Film selbst wieder in anderen Farben erstrahlen kann.
Doch um Frieden zu finden müssen auf beiden Seiten noch eine Menge Blut und Tränen fließen, der Film sorgt dafür, dass es einem nicht zu leicht gemacht wird und er stellt lieber noch ein paar grundlegende Fragen auf seinem langwierigen Weg. Über das Vater/Sohn-Verhältnis etwa, das öfters in Vergessenheit zu geraten scheint, nur um zum Ende hin eine zentrale Bedeutung einzunehmen.
Realismus gar Existentialismus, Charakterkino kann man es auch nennen; all das landet nur noch selten auf den großen Leinwänden, meint man. Bei Audiards neustem filmischen Streich denkt man aber wieder an diese Begriffe und man denkt auch an Leos Carax und seinen schönen Pont-Neuf-Film über das Clochard-Pärchen, nicht nur am Rande der Seine, sondern vor allem am Rande ihrer Selbst, die doch oder gerade deswegen zueinander finden.
Alis (Matthias Schoenaerts) Verhältnis zu und Stéphanie (Marion Cotillard) gleicht auch einer stürmischen Schlacht, denn was sich liebt, das neckt sich (um es milde auszudrücken!), und bis bei Ali Worte der Zuneigung fallen, dauert es auch ein bisschen länger, bzw. die Welt um ihn muss schon endgültig zusammenfallen, bevor er  Stéphanie sagen kann, was er wirklich empfindet. Und der irrsinnige Vergleich zu Carax stellt sich schon wieder, weil auch Audiard den expressionistischen Film-Pinsel schwingt, schnörkellos, direkt, ohne Kitsch und prätentiöse Wortgefechte und aufdringliche Voice Over-Gedankenwiedergaben, sondern lieber alles auf die Bilder und vor allem seine beiden Hauptdarsteller setzt.
Als Stéphanie zum allerersten Mal gezeigt wird, liegt sie nach einer Auseinandersetzung im Gedränge vor einer Disco, die Kamera zuerst auf ihren Beinen (die sie später verliert) und erst dann ihr blutendes Gesicht. Das ist nur eins der kleinen optisch-narrativen Spielchen und eine der unglamurösesten Einführungen einer Filmfigur. Davon lebt der Film; von dem Versuch, sich an dem Gewöhnlichen vorbeizuschlängeln.

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